Berlin -> Barcelona #1: Tage voller Wind und Sonnenschein, Nächte mit Musik und Wein
Ich sitze im Billigflieger (bei der Landung klatschen einige Passagiere) und lese “The Transition Handbook” von Rob Hopkins in dem es (sehr verkürzt) darum geht, dass wir weniger fossile Energie verbrauchen müssen, wenn wir uns als Spezies nicht selbst auslöschen wollen. Ein bisschen paradox, ich weiß. Aber scheiß drauf! Ich fliege (fast) nie, und es gibt Dinge die sind viel zu wichtig, als dass man nicht halzüberkopf quer durch Europa jetten sollte… Also auf nach Barcelona!
“WOW! Wie eine Mischung aus Wien und Alexandria”, freue ich mich, als ich vom Flughafen kommend die unterirdische Bahnstation verlasse. Die architektonische Finesse einer K.u.K. Metropole trifft auf mediterrane Leichtigkeit; auf Parks mit Palmen, auf Tage voller Wind und Sonnenschein und funkelnde Nächte mit Musik und Rotwein…
Barcelona ist eine wunderschöne Stadt. Egal ob an den mit gründerzeitlichen Prachtbauten gesäumten Alleen, oder in den verwinkelten Gassen der Altstadt – überall kann man schöne Architektur entdecken. Es scheint, dass die Verspieltheit der kalten Funktionalität in dieser Stadt wenig Raum gelassen hat. Ich brauche ein paar Tage, bis mir die ersten Zweckbauten auffallen. Auch habe ich noch keine Stadt gesehen, in der die Design(er)-Laden-Dichte so hoch ist.
Ich komme genau zu “La Mercé“, einem Musik-Festival. Überall in der Stadt sind Bühnen aufgebaut. Mitten in der Nacht stehen wir in einem riesigen, historischen Innenhof, und hören ein Set aus elektronischen Beats kombiniert mit iberischen Einflüssen und arabesken Akzenten. Hat was.
Durch die Menge stromern “Pakis” mit Plastikbeuteln voll kalter Bierdosen. Ihnen immer dicht auf den Fersen uniformierte Polizisten mit Neon-Jäckchen, die probieren die fliegenden Händler zu fangen. Sehr lächerlich, dieses Katz-und-Maus-Spiel: Angebot und Nachfrage sind doch die Basis unseres Wirtschaftssystems, oder habe ich da was missverstanden?
An sehr vielen Fenstern und Balkonen hängen katalanische Fahnen. Gerade erst, zum katalanischen Nationalfeiertag, gab es in Barcelona eine Demonstration mit 1,5 bis 2 Millionen (!) Teilnehmern, auf der ein Referendum über die Autonomie gefordert wurde. Die konservative Lokal-Regierung, so lasse ich mir erklären, unterstützt die Forderung nach einer Loslösung von Spanien. Die Katalaner haben das Gefühl, dass sie im Zuge des “Spanischen Länder-Finanzausgleichs” viel mehr Geld nach Madrid schicken, als von dort zurückkommt. Im Stadtbild sehe ich sehr viele katalanische Fahnen, einige europäische, und wenig spanische.
Auffällig ist auch das sehr große Polizei-Aufgebot in den Straßen: Guardia Urbana, Guardia National und Guardia Civil scheinen um das Privileg des Verkehr-Regelns zu streiten. Den vielen Rollerfahrern ist das überwiegend egal. Iberische Gelassenheit.
In Barcelona ist “La Moto”, der Scooter bzw. Roller, die erste Wahl im Individualverkehr. Gefühlte 50% der Gesamtbevölkerung schlängeln sich Tag und Nacht in Scooter-Schwärmen durch die Straßen. Links – rechts – links – und vorbei. Viel schneller als mit dem Auto – und irgendwie näher dran. An den Kreuzungen gibt es Roller-Parkbuchten. Sollte man in Berlin auch übernehmen, das Konzept.
Mit einem 15 Jahre alten Scooter – ihr Name ist “Abuela Paca” (“Oma Paca”) – düsen wir zu einem privaten katalanischen Kulturzentrum bzw. Club. Eine Freundin hat uns dorthin eingeladen. Der Zugang ist durch einen vierstelligen Zahlencode am Eingang gesichert. Zutritt nur für Mitglieder – und deren Gäste. In der schwarz-weiß gekachelten Empfangshalle hängen an den Wänden die Portraits von Journalisten, Autoren und Philosophen, die Mitglieder sind – oder waren. In einer der Etagen hier hat der katalanische Pen-Club seine Dependance.
Nach einer geflüsterten Führung durch die historische Bibliothek sitzen wir mit unserer Gastgeberin – sie stammt gebürtig aus Barcelona – im elegant gestalteten Innenhof. Hier stehen Zitronenbäume, in einem kleinen Teich in der Mitte planschen Kois. An den Nachbartischen im Kaffeehaus-Stil sitzen die Leute bei Bier oder Kaffee, lesen Zeitung, oder unterhalten sich leise. Über dem gesamten Ort liegt eine große Ruhe und Gelassenheit, das hektische Treiben der Straßen scheint meilenweit entfernt…
Wir kommen auf die wirtschaftlichen Verwerfungen zu sprechen: Bislang erschien mir die Krise in Spanien sehr, sehr weit weg. Fast wie ein Schauermärchen – irgendwie irreal. Von Deutschland aus hatte ich mir die Situation vor Ort schlimmer vorgestellt, offensichtlicher. Auf den ersten Blick aber sieht man hier im Stadtkern weniger Elend als in der Berliner Innenstadt.
Nun erzählt unsere Freundin jedoch von den hiesigen Problemen unserer Generation: Junge Leute, die keinen Job finden, deren staatliche Arbeitslosenunterstützung gnadenlos zusammengestrichen wird, die von den Eltern unterstützt werden müssen, die kaum noch eine Perspektive sehen.
Das Schauermärchen wird plötzlich sehr real…
Sie selbst – bestens ausgebildet – wurde entlassen und findet nun keinen neuen Job. Wie ihr geht es vielen. Spanien hat aktuell die weltweit höchste erfasste Jugendarbeitslosigkeit.
Wenn sie bis Weihnachten nichts gefunden hat, will sie auswandern. Vielleicht nach Hamburg, um dort als Aupair zu arbeiten. Sie will ihr Deutsch verbessern, um endlich die alten Philosophen im Original lesen zu können.
Anschließend gibt sie uns noch eine Führung durch ihre Stadt, das “echte” Barcelona. Sie erzählt uns, wie es hier früher war, wie dann die Gentrifizierung von statten ging: Vor den Olympischen Sommerspielen 1992 wurden die Armenviertel “ausgelichtet”. Ganze Straßenzüge wurden planiert, in den Brachen entstanden Parks und Museen. Was in Berlin ein schleichender Prozess ist, war in Barcelona eine forcierte Aktion.
Später am Abend sehe ich dann Bilder und Videos aus Madrid: Während wir über architektonische Details debattieren, versuchen zehntausende in der spanischen Hauptstadt das Parlament zu umzingeln, um gegen den Ausverkauf des Sozialsystems zu demonstrieren… “Die Banken bräuchten da nochmals 100 Milliarden”, erinnere ich mich irgendwo gelesen zu haben.
Die Tagesschau (wie auch die anderen deutschen Leitmedien) wird es erst ignorieren, dann von nur 3000 Demonstranten schreiben, und dafür einen “Shitstorm” ernten. Attac spricht von 50.000 bis 100.000 Teilnehmern.
Schon wieder sehe ich die selben Bilder, die den schleichenden Niedergang unseres Wirtschaftssystems illustrieren: Vermummte Chaoten prügeln wahllos auf Demonstranten ein.
Und dennoch ist das alles in diesem Moment so weit weg von Barcelona. Muss ein anderes Spanien sein; ein anderes Europa, dass da gerade den Bach runtergeht…
Abuela Paca bringt uns auf einen Hügel oberhalb der Stadt. Auf der Wiese vor dem nationalen katalanischen Kunstmuseum sitzen wir in Mitten von picknickenden Familien mit kleinen Kindern und warten. Mit drei pyrotechnischen Paukenschlägen beginnt eines der größten Feuerwerke, das ich bislang gesehen habe. Der fulminante Abschluss von “La Mercé”.
Während ich in den funkelnden Himmel über Barcelona blicke, lasse ich meine Reise revue passieren: Barcelona ist eine wunderbare Stadt. Ich war zwei Wochen da, es kam mir vor wie wenige Tage. Ich habe nur eine kleine Vorschau genossen, aber ich mag, was ich gesehen habe.
Un Beso a Barcelona. Du bist definitiv eine Stadt zum Verlieben.
Wow, schön erzählt. Man kann die Einflüsse unmittelbar miterleben, und an die Stadt wird man auch erinnert. Niiiiiice :)