Von Bildern, die nicht da sind – ein Tweetup-Experiment

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Wo sind die Bilder? In deinem Kopf!

Tipp für Menschen mit wenig Zeit: Die ersten und die letzten zwei Absätze lesen, dazwischen zwei oder drei der Bild-Abschnitte – fertig ist die Kurzversion.

 

Die Steigerung von Tweetup? Tweetup in einer Ausstellung, die es nicht gibt. Man nehme: Einen möglichst reizarmen Ort, zum Beispiel einen gerade ungenutzen Raum in einem Museum. Man tauche ihn in schummriges Licht, zum Beispiel mit einer nackten Glühbirne. Weiter braucht man einen Projektor mit angeschlossenem Computer, WLAN, ein paar Stühle und am besten noch einen Tisch. Dann: Teilnehmer, ca. 15. Der Großteil davon sollte mit internetfähigen Geräten und regelmäßig genutzten Twitteraccounts ausgestattet sein, zudem noch über eine Vorliebe für Kunst und Kulturelles verfügen,  mit der er sich gern und gekonnt im digitalen Raum bewegt. Was noch? Ein Thema, zum Beispiel „Abstrakt“, zu dem sich jeder Teilnehmer in den Weiten des Internets ein Werk aussucht und in seinen digitalen Koffer packt. Nun fehlt nur noch ein Erzähler.

 

Der Erzähler, der uns durch dieses von den Kulturkonsorten organisierte Experiment führt, ist Stefan-Maria Mittendorf, Kunsthistoriker. Der Raum ist im Haus der Kunst in München, immer offen für kulturelle Vorstöße ins Digitale, und die Initiatorin der ganzen Sache ist Marion Schwer. Sie wird die Ergebnisse des Tweetups in Literatur verwandeln, sagt sie, das Tweetup als Literaturproduktionsmaschine nutzen. Der Hashtag #outofblue: Kandinsky, Blau, Geistigkeit. Dass Kandinsky schon so früh an diesem Abend auftaucht, beruhigt mich, auch wenn mir das mit der Literatur noch nicht so klar ist. Der Projektor wirft die Twitterwall an die Wand – und zwar nur die, keine Fotos der Kunstwerke – und der Erzähler beginnt mit dem ersten Bild. Drei bis fünf Minuten wird er darüber reden, parallel wird der Tweeter, der sich das Bild ausgesucht hat, darüber tweeten. Der Rest tweetet mit. Ich kritzle auf meinem Block und ein iPad habe ich mir auch ausgeliehen. Noch Fragen?

 

Los! Bild 1: Paul Klee, Angelus Novus, aktuell zu finden im Israel Museum in Jerusalem. Herr Mittendorf erzählt. Die Teilnehmer tippen. 1915-1940: Paul Klees Engeljahre. 50 Varianten gibt es. Ich suche das Bild im Internet – da. Engelslocken. Die Tweets fließen aus den Fingerspitzen der Teilnehmer ins Netz und die Wand herunter. Nach einigen Minuten ein Ausruf: „Das ist cool, das ist super!“ Lachen. Es bleiben die einzigen Worte, die ein Teilnehmer während dieses Events laut in den Raum spricht.

 

Bild 2: Feld 83/84 von Günther Uecker. Kenne ich nicht, mein Internet hängt. In meinem Kopf breiten sich grüne Wiesen aus… Halt! Das Bild ist aus Nägeln. In meinem Kopf also ein Bild aus Nägeln und ich stelle mir vor, wie es sich anfühlt, mit den Fingern darüberzustreichen. Gleichzeitig versuche ich, ein Bild des Kunstwerks zu laden und den Tweets an der Wand zu folgen, bzw. auch den Tweets auf meinem geliehenen iPad, und ich versuche, selbst einen zu schreiben. Während ich dem Erzähler zuhöre und Eckdaten auf meinem Block notiere, versteht sich.

 

Bild 3: Mein Tweet ist immer noch nicht raus und ich bekomme den Titel des Werks nicht mit. Es ist von Rohlfs. Ah! Rote Dächer unter Bäumen. Auf einmal ein lautes Geräusch, der Fahrstuhl brummt nebenan. Nur kurz hält der Erzähler inne, die Tweets nicht. Auch von außen wird munter mitgetippt. Fauvismus, sagt Herr Mittendorf. Bilder in meinem Kopf, Matisse, Vlaminck, ich stelle mir rote Dächer vor, Bäume, kräftige Farben. Meine Internetverbindung hängt immer noch.

 

Bild 4 – Concept Art. Sound of Ice Melting. Künstler? Der Raum hallt ziemlich. Kos! Paul Kos. Ich wechsle den Platz, gehe etwas näher zur Tür in der Hoffnung auf eine bessere Verbindung. Im Gegensatz zu den meisten anderen hier hat dieses iPad keine eigene SIM-Karte. Schmelzendes Eis. In unserem Raum: Stille. Tippen, konzentrierte Blicke. Schmelzendes Eis und Mikrofone. Weiter.

 

Bild 5: Water Selected. Roni Horn. Digitaler Print auf Papier, sagt der Erzähler, hängt in der TATE. Auf meinen Block schreibe ich: Library of Water: 1) Topografische Karte von Island, 2) You are the weather. In meinem  Kopf wirbelt es. Wasser. Island. Auch Island ist im Moment ein fiktives Land in meinem Kopf – ich war noch nie dort.

 

Bild 6: Malewitsch. Schwarzes Quadrat. Na klar! Sofort habe das Bild so ungefähr im Kopf und versuche erst gar nicht, es im Netz zu suchen. Inzwischen sitze ich neben der offenen Tür auf dem Boden. Sieg der Sonne, sagt der Erzähler. Eine Oper, für die Malewitsch das Bühnenbild entworfen hat. Schwupp, ich habe Netz, ich lese Tweets.

 

Bild 7: Art brut. Kunst von Kindern. Kein Formkorsett. Ich habe Titel und Künstler verpasst – verdammt! „Außerirdische mit Baummotiv. Sorry! Mehr hab ich nicht mitbekommen,“ twittert eine Teilnehmerin. Mir geht’s da ähnlich. Und weiter.

 

Bild 8: Bottom of My Garden. Tanzende Putten. Das Bild in meinem Kopf verändert sich schlagartig, als ich mitbekomme, dass es von Warhol ist. Der Raum hallt und in meinem Kopf tanzen, ja, kleine Engel.

 

Bild 9: Was? Wer? Ein Gebäude. Wohnhaus. Minimalistisch. Swimming pool. Bibliothek. Die Dusche ist in die Wand integriert. Oweh.

 

Bild 10: Cy Twombly, Roses, und ich bin wieder dabei. Ich habe sie schon gesehen, die riesigen, von Farbe triefenden Rosen, Räume voller Rosen im Museum Brandhorst. Ich höre zu und sehe mich um. Eine halbfertige Konstruktion im Eck – Spanplatten, Verlängerungskabel, zwei Leitern. Die Bildschirme der Smartphones, Tablets, Laptops beleuchten konzentrierte Gesichter. Was sagt die Tweetwall? Viel. Sehr viel. Und der Erzähler erzählt.

 

Bild 11: Ein Foto. Ich bin wieder raus. Meine Notizen: Der Sachlichkeit verpflichtet. Wie im Duktus eines Passfotos. Keine Spur menschlichen Lebens in diesem Haus.

 

Bild 12: Klee. Klee ist zurück! Kamel in Rhythmischer Baumlandschaft, steht auf meinem Block. Titel richtig notiert! Vögel wie denaturiertes Vogelbild, verschiedene Ebenen, schreibe ich auf. Farben, Farben, Farben. Zum Glück ist der Raum nicht besser beleuchtet, ich würde vor Sinnüberladung nur noch zusammengerollt am Boden liegen (anstatt über meinen Block zusammengekrümmt zu sitzen).

 

Bild 13: Chagall, Le Cirque Bleu. Blau! Welch ein Abschluss. Die Artistin hoch in der Luft. Märchenhaft, schwerelos, unheimlich.

 

Und dann ist es vorbei. Benommen stolpern wir aus dem Raum in die hell erleuchtete Mittelhalle. Dann in die Goldene Bar, die zum Museum gehört. Oh, ah! Es dauert ein paar Minuten, bis aus verzücktem Gestammel wieder zusammenhängende Sätze werden und sich die Blicke von den Bildschirmen und dem eigenen Kopfkino lösen, um wieder in die räumliche Wirklichkeit zurückzufinden. Wir stoßen an. Und wie ist das jetzt mit der Literatur? Die Tweets, sagt Marion Schwer, die wird sie zusammenstellen, aneinander anschließen, ohne die Namen der Absender und ohne die Links. Daraus wird ein Text entstehen, hoffentlich ein überraschender, der in seiner Neukombination andere Blickwinkel eröffnet. Schon in der Einladung stand ja, es gehe bei dieser Veranstaltung nicht um den fachlichen Austausch über Kunst, sondern um „Geschichten, Impressionen und Emotionen“. Und eben um das vorgegebene Thema: Abstrakt. Abstrakt, das war es auch.

 

Fazit? Schwierig. Es ging alles sehr viel schneller als bei einem „normalen“ Tweetup, nicht zuletzt, weil man nicht räumlich von einem Bild zum nächsten gehen musste – immer eine gute Gelegenheit, um noch eine Notiz auf den Block zu kritzeln bzw. einen Tweet zu beenden. Bevor man also seine Assoziationen und Gedanken zu einem Werk sortieren konnte, kam schon das nächste dazu. Durch die begrenzte Zeit hat auch der Austausch mit dem Erzähler gänzlich gefehlt, was bei anderen Tweetups auch noch mal mehr Luft gibt, um das Gehörte und Gesehene mental zu verarbeiten. Andererseits hat gerade diese Überladung zu einem intensiven inneren Farberlebnis geführt, was ja durchaus auch zum Thema gepasst hat. Das Ganze war irgendwie absurd, muss man sagen. Aber auch irgendwie berauschend. Die denken sich schon ungewöhnliche Sachen aus, diese Kulturkonsorten. Was wohl als Nächstes kommt?


von barbara am 28.Okt.2013 in ideen

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  1. Von blog.iliou-melathron.de am 4. November 2013 um 09:30

    [...] den bislang vorliegenden Nachlesen wurde das Experiment als "rauschhaft", "filterlos" oder "absurd" beschrieben. Auch die einlaufenden Tweets während des Events schwankten zwischen absoluter [...]

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