“Rettet alles!” – ein Tweetup auf dem Tollwood Winterfestival

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Kleines Rätsel: Wer weiß noch, was das ist?

Schutzlos, sicher, arm, satt, illegal, egal. Das ist das erste, was ich mir notiert habe: schutzlos, sicher, arm, satt, illegal, egal. Die Worte stehen orange auf weiß, weiß auf orange auf sechs Sofas links der Bodenprojektion im Weltsalon, ein Wort pro Sofa. Das kann man so gut lesen, weil noch keiner draufsitzt – es ist ein Tag vor der offiziellen Eröffnung des Tollwood Winterfestivals in München, die Wärmepumpen sind schon in vollem Betrieb und die Techniker sitzen am letzten Feinschliff. Außerdem werden die Fenster der Telefonzelle poliert, das Schicksal legt eine Extraschicht ein, die Fische bekommen noch ein paar letzte Plastiktüten in ihren Maschendrahtzaun gefädelt und … also, von vorn.

 

Ein Tweetup im Weltsalon des Münchner Winterfestivals Tollwood, mitorganisiert von den Kulturkonsorten, Montag den 24.11. um 18.30 Uhr, die Teilnehmerzahl ist beschränkt. Schönerweise bin ich dabei, obwohl mein Handy immer noch so alt ist, dass die Twitter-App darauf nicht funktioniert. Her also mit Stift, Papier und Knipse-Kamera! 1200 m² Fläche hat dieses Zelt, 8 Kilometer Kabel ermöglichen u.a. eine Filmprojektion auf dem Boden in der Mitte – das ist die größte technische Herausforderung dieses Jahr. Stephanie Weigel, die Leiterin der Abteilung Umweltprojekte des Tollwood, heißt uns Twitterer und Blogger herzlich willkommen. Im Weltsalon, sagt sie, wird ökologischen und soziologischen Themen eine ganz besondere Plattform geboten, dieses Jahr mit dem Ziel, aus den Besuchern Beteiligte zu machen. Der Titel: Himmel auf Erden. Das Konzept: die Welt als Baustelle in 12 Räumen.

 

Trinken auf die Zukunft - die Baustellen Bar im Weltsalon

Trinken auf die Zukunft - die BauBar im Weltsalon.

Aber Schluss mit der Theorie und los geht die Entdeckungsreise: Der erste Raum, den wir uns ansehen, ist eine Telefonzelle. Gelb. Mit diesen eingeschraubten Telefonbüchern, die man nach oben klappen muss, um darin zu blättern. Telefonzelle, Bücher, blättern, kommt noch jemand mit? Auf jeden Fall muss man nur die Tür öffnen, schon klingelt es. Zwei schwarze Telefone. Morpheus, bist du’s? Nein, es sind … Okay, nur nicht zu viel verraten. Die Reaktion der Twitterer, die einen Hörer abnehmen und lauschen, ist ein eindeutiges Lachen.

 

Raum zwei: ein alter Ford. Aber wir gehen direkt zu Raum drei über: eine Bushaltestelle. Koffer, Taschen, Sitzplätze, Fahrpläne. Statt der Durchsagen aber die Stimmen von Flüchtlingen, größtenteils aus Syrien, die von ihren Erfahrungen in Deutschland sprechen. Der Künstler Kalle Lehto hat sich dafür am Rande der Legalität in ein Flüchtlingsheim geschlichen und die Menschen dort interviewt. Das Heim sei nicht weit von hier, sagt er. Uff.

 

Gebratene Hühner schweben vom Himmel ... Schlaraffenland? Ganz bestimmt nicht.

Gebratene Hühner hängen von der Decke. Schlaraffenland? Ganz bestimmt nicht.

Raum vier ist auch nicht gerade weit weit: gebratene Hähnchen (bzw. Plastikversionen davon) hängen über an einem Gitter, durch das rote Lampen auf uns herunterstrahlen. In der Ecke eine Mikrowelle. In der Mikrowelle ein Tablet, auf dem Szenen aus Mastbetrieben der Region abgespielt werden. Die Zuchtverhältnisse dort absolut legal, alle Vorgaben werden mustergültig eingehalten. Noch mal uff.

 

Raum fünf, Jeans hängen an den Wänden, dazwischen zwei Fotos von Fabrikarbeiterinnen, die Jeans herstellen. Bangladesch. Auf der Tonspur rattern Nähmaschinen. Die Jeans, erklärt Stephanie Weigel, sei das Lieblingskleidungsstück der Deutschen, und vor allem die “stonewashed” Variante sei für die Gesundheit der Fabrikarbeiter sehr gefährlich. Ein kollektives „Oh!“, als wir an uns selbst nach unten sehen – der Raum wirkt, er bringt uns zum Nachdenken. Da postet bestimmt gleich jemand was auf Twitter … Ein Beispiel, im Nachhinein gefunden: “Ok. Ich hab ne total bekloppte Jeans an. ÖKO-DESASTER. #Tollwood“.

 

Um diese Frage zu beantworten, steht den Besuchern Kreide zur Verfügung.

Tafelfarbe und Kreide - der Besucher wird zum Gestalter.

Raum sechs, das Klassenzimmer des Lebens. “Bevor ich sterbe, möchte ich …”. Drei Wände, mit Tafelfarbe bestrichen, auf der Ablage genug Kreide für alle. Spannend wird der Raum natürlich erst, wenn die Besucher sich selbst einbringen. Einer aus der Gruppe schreibt die ersten Worte: „meine Kinder 1 Mio. mal lachen sehen“. Schön. Was wohl inzwischen noch dort steht?

 

Arbeitszimmer des Schicksals, Tollwood Winterfestival München 2014

Im Arbeitszimmer des Schicksals können Besucher ihre Wünsche an die Wand hängen.

Sieben. Das Schicksal ist eine Frau mit roten Lippen und weißem Kleid, ein wenig überarbeitet, man hat ja keinen Feierabend als Schicksal. Kleiner Tipp: sie ist bestechlich und mag Komplimente. Es besteht also noch Hoffnung.

 

Eine letzte Tüte für den "Alten Mann und das Meer".

Fische aus Plastik - Torsten Mühlbach fügt seiner Installation ein letztes Stück Müll hinzu.

Acht. Die Installation “Der alte Mann und das Meer” nimmt fast die komplette Rückwand des Zelts ein. Fische aus Plastikmüll, surreal bunt. Es sei erstaunlich gewesen, wie schnell er diesen ganzen Müll von nur wenigen Haushalten zusammengesammelt hatte, sagt der verantwortliche Künstler Torsten Mühlbach.

 

Neun. Ein Bahnhof. Die Hilfsorganisation „Ärzte der Welt“ hat ihn entworfen, in jedem Schließfach gibt es etwas zu entdecken. Wieder möchte ich nicht zu viel verraten, daher mein Tipp: hingehen, nachsehen.

 

Der Mexikanische Drogenkrieg in der "Küche" des Weltsalons

Anschaulicher geht's nicht - die "Küche" des Weltsalons.

Zehn. Eine Küche. Tomatensoße? Blut. Abgefüllt in Töpfe, Weingläser, Schüsseln. Die Toten des Mexikanischen Drogenkriegs, der 2006 begann und bis heute andauert, passen in einen Salz- und einen Pfefferstreuer, die von 9/11 auf eine Messerspitze, für den zweiten Weltkrieg sind drei Kisten voller Bierflaschen nötig. 10 Milliliter stehen dabei für 10.000 Tote. Um mich herum Schweigen, betroffene Gesichter. Zum Glück findet man in einer Schublade ein Buch mit Rezepten für den Frieden, in das die Besucher etwas eintragen können.

 

Elf. Tauschen statt kaufen. Regale. Man kann sich etwas daraus nehmen und etwas anderes zurückstellen. Einer von uns hat bereits sein Auge auf eine Salatschleuder geworfen, jemand anderes durchwandert mental sein Zuhause und weiß schon ganz genau, was er hier abgeben möchte.

 

Zwölf. Ein Gewächshaus voller ausgestopfter Tiere, die vom Aussterben bedroht sind. Eine Robbe, eine Biene aus der Region. Darüber in leuchtender Schrift: RETTET ALLES.

 

Warum die Welt rettenswert ist - Fotoausstellung der National Geographic.

Warum die Welt rettenswert ist - Fotoausstellung der National Geographic.

Recht haben die. Den Abschluss bildet eine Ausstellung der National Geographic, die auf Fotos eindrücklich zeigt, wie schön und spannend und erstaunlich unsere Welt doch ist und wie sehr sie es wert ist, gerettet zu werden.

 

Viel mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen. Die Welt als Baustelle. Die Welt als rettenswert. Und bei aller erschreckenden Klarheit ist im Weltsalon der Funke der Hoffnung nicht vergessen worden. Daher auch die auffordernden Schlussworte von Stephanie Weigel: “Es ist machbar.”

 


Tollwood Winterfestival, Theresienwiese München, 25.11. – 31.12.2014, Öffnungszeiten: Mo. – Fr. 14 – 1 Uhr, Sa./So. 11 – 1 Uhr. Programm und weitere Infos: www.tollwood.de.

 


von barbara am 30.Nov.2014 in kultur

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