Ein Scout unter Gleichen: Schokotarte, Kaffee und Gentrifizierung
„Der Kopf sagt Dir ‘bleib’ aber das Herz weiß, Du wirst gehn“. Wie recht Max Herre hat. Seit Wochen das selbe Spiel. Und jedes Mal denk ich mir aufs Neue: „Dieses Mal wird’s vielleicht anders… das Wetter ist so schlecht, da kommt bestimmt keiner…“ Und dann: Massenbesichtigung.
Schon auf der Straße steht eine Gruppe Studenten, die emsig ihre Unterlagen sortieren. Die Markise des Spätis liefert scheinbar nur unzureichend Schutz vor den allgegenwärtigen Regentropfen des Berliner Sommers. Sie fluchen, während die Tinte der Unterschrift verschwimmt. Bürgschaft – vermutlich von den Eltern. Ich versuche es trotzdem. Die stehen bestimmt alle für eine andere Besichtigung an. Die Wohnungstür steht offen. Hereinkommen ist dennoch schwer. Eine Handvoll Menschen strömt heraus. Die Wohnung in der Jonasstraße ist schön. Zwei große Zimmer, alte Dielen, hohe Decken, alles lichtdurchflutet. Die Traube von Menschen, die sich um den lustlosen Markler versammelt haben, scheint das ähnlich zu sehen. Ich mache eine schnelle Runde, denke mir „schön wär’s gewesen“ und kämpfe mich durchs Treppenhaus zurück vor die Haustüre.
Nebel über Neukölln. Ich laufe durch die Straßen, ihre Blicke verfolgen mich. Wirkten Hemd und Jackett heute morgen noch wie eine gute und legitime Wahl, scheinen sie jetzt vollkommen fehl am Platz. Der Scout der Gentrifizierung schlägt sich seinen Weg durch den Regen. Vorbei am Körnerpark, eine junge Mutter mit Kopftuch und Kinderwagen lächelt – auch ihr Blick wirkt mitleidig. Mitleidig aber freundlich.
Wie schon so oft in den letzten Wochen führt mein Weg vorbei an Spielotheken in die Siegfriedstraße. Ich laufe Richtung U-Bahnhof Hermannstraße für meinen Post-Wohnungs-Besichtigungs-Kaffee. Das Café hat keinen Namen – zumindest keinen offen ersichtlichen. Ein Ort wie dieser kann wohl keinen haben.
Das Pärchen, das es zu leiten scheint sitzt an einem kleinen Tisch. Sie frühstücken zu klassischem Berliner Elektro. Auch hier abfällige Blicke – real oder eingebildet, darüber bin ich mir nicht mehr so im Klaren. Offensichtlich störe ich beim Frühstück. Er steht auf um mich zu bedienen. Ich nehme einen Kaffee – er ist fair trade. Der ganze Laden schreit „alternativ“: Die Tische und Stühle sind aus alten Übersehkisten gezimmert. Rundherum Brandings, die auf Glas hinweisen oder vor Nässe warnen. Auch der Tresen aus dem selben Leimholz. Hinter der Platte, auf die „Fragile“ gedruckt steht, scheint ein Kühlschrank zu sein. Durch eine Aussparung sieht man auf das Kuchenangebot. Die mittlere Kuchenplatte ist leer. Drunter und drüber Schokotarte und „Bisquit-Sahne-Erdbeer-Zeug… alles vegan!“, wie er mich informiert. Ich bleibe beim Kaffee – zu früh für Kuchen, vegan oder nicht.
Von der mit Gipsplatten abgehängten Decke baumeln diverse Glühbirnen, die Wände sind frisch verputzt, aber (noch) nicht gestrichen. Hinter dem Tresenbereich, in dem die Kaffeemaschinen stehen, eröffnet sich eine große Küche. Zu den Füßen abgezogene Dielen, die sichtlich schon einiges erlebt haben. In verschiedenen Ecken gibt es Türen, die schwer abschätzbar machen, wie groß der gesamte Bereich ist.
Ich setze mich auf eine der Kisten. Die kleinen grünen Kissen, die vereinzelt verteilt liegen, machen sie nur unwesentlich bequemer. Zur Straße gibt es ein großes Schaufenster, die Raucher stehen im Regen. Ich denke an Kaffeehäuser, an Pfeifen, ans Schachspielen. Hier lädt wenig zum Verweilen ein. Ich weiß nicht wieso ich immer wieder her komme. Ich probiere mir einzureden, dass es an dem sympathischen Pärchen liegt. Es gelingt mir nicht. Über den Rand meiner Kaffeetasse schaue ich sie mir näher an. Ich überlege was sie wohl machen, wenn sie nicht in ihrem Café sind. Er ist etwa Ende 20, hat abrasierte Haare und einen Bart, sie ist etwas jünger und hat ausrasierte Schläfen. Sie reden über eine Elektroswing-Party im Festsaal Kreuzberg und übers Reisen. Sie scheint Weltenbummlerin zu sein, Backpackerin, die es nicht lange an einem Ort hält. „Er ist TU-Student“, denke ich. Ich weiß nicht wie ich auf die Idee komme, aber der Gedanke setzt sich fest.
Die beiden frühstücken sehr gemütlich und ausgiebig. Es gibt Körnerbrötchen. Tomate und Mozzarella sind mit frischen Kräutern garniert.
Als ich aufs Klo gehe, verstehe ich besser wo ich bin. Ich laufe an Fahrrädern vorbei und unter einer Empore hindurch, die ein Hochbett zu sein scheint. Davor steht eine martialisch anmutende Metallkonstruktion, die wohl eine Leiter ist. Auf der Fensternische hinter dem Spülkasten steht ein Glas mit einer alten Zahnbürste, dahinter eine Packung Binden. An der Badtür hängt eine abgeschraubte Duschbrause.
Ich sitze nicht in einem Café, ich sitze in einer Wohnung, in der sie Kaffee verkaufen. Nur das erste Zimmer ist erkennbar für Gäste ausgelegt, dahinter verschwimmen die Grenzen.
Zurück bei meinem Kaffee. Ich denke weiter, aber anders. Vielleicht ging es den beiden wie mir, vielleicht haben sie Wohnungen gesucht, bis sie auf die Idee kamen ein Ladenlokal zu mieten und nebenher Kaffee zu verkaufen. Das Konzept fasziniert mich, auch wenn mir relativ schnell klar wird, dass das nichts für mich wäre. Irgendwie hat dieser Ort etwas exhibitionistisches. Sie laden Kunden in ihr Zuhause ein und konterkarieren damit sowohl das Konzept „Café“ als auch die Idee „Wohnen“ – zumindest nach meinem Verständnis. Die Kombination bringt aber nicht ein besonders wohnliches Café hervor. Es ist nicht das Wohnzimmer bei Freunden, eher die Wartehalle bei Ryanair. Und trotzdem bleibe ich.
Ich trinke einen zweiten Kaffee. „Das war Schokotarte, sagtest Du?… klingt gut!“ Der TUler drückt mir einen kleinen Teller und die neue Tasse in die Hand. Der Regen hat aufgehört. Vor der Tür läuft eine ältere, gebückte Frau mit einem Einkaufsrollator vorbei. Ich denke über Einkaufsrollatoren nach, wohl darüber im Klaren, dass es das Wort vermutlich nicht gibt. Kurz daraufein Hipster mit Longboard, einige Zeit nichts, dann zwei kleine Mädchen und aus der anderen Richtung ein grimmig dreinschauender Obdachloser. „Das ist Berlin“, kommt mir in den Sinn und ich ärgeremich im selben Moment über die nichtssagende Plattitüde.
Die Tarte ist lecker. Sie ist sehr flach und wirkt auf den ersten Blick eher unscheinbar. Was ihr an Größe fehlt, macht sie aber an Farbe wett. Das tiefe schokoladige Braun lässt einem schon vor dem ersten Bissen das Wasser im Mund zusammen laufen. Obwohl sehr kalt, schmilzt das Stück im Mund – ein unerwarteter Genuss. Ich spreche mein Kompliment aus – so macht man das wohl, wenn man im Wohnzimmer bei Freunden Kuchen isst. Und frage ob sie hausgemacht sei. Der TUler ist sichtlich erfreut: „Ja, gestern Abend! Die schmeckt besser, wenn sie über Nacht durchzieht. Die ist ganz vegan!“ Darauf scheint er besonderen Wert zu legen.
Das Mädchen, das sich mit ihrer Freundin an den Nachbartisch setzt, nimmtauch ein Stück. Sie erinnert mich an eine Bekannte, die nicht weit von hier lebt. Auch sie reden übers Reisen… oder über Sonnenbrillen, der Fokus des Gespräches kommt nicht so ganz raus. Die Blonde – sie hat wirklich Ähnlichkeit mit J. – erklärt, sie habe schon zwei verloren (vermutlich Sonnenbrillen, zwischendurch fährt ein Bus vorbei, dessen Motorengeräusch Teile des Gespräches überdeckt). Dann die Gewissheit: Es geht um Ray-Ban-Sonnenbrillen. Die eine wurde ihr beim Surfen gestohlen, die andere fiel ins Hafenbecken von Mombasa. Hippe Weltbürger.
Ich esse meine Tarte auf und trinke dazu, obwohl ich eigentlich schon zu viel Koffein hatte, eine weitere Tasse Kaffee. Als auch diese leer ist, bezahle ich meine Rechnung und trete vor die Tür.
Da fast schon wieder die Sonne scheint, beschließe ich, eine Station zu laufen. Auf dem Weg zur Leinestraße sehe ich zwei LKWvon Robben und Wientjes mit Warnblinklicht. Zwei Bärtige tragen eine Couch in den neuen Altbau. Die Häuser der Straße sind eingerüstet. Als J.vor einigen Jahren in die Siegfriedstraße zog, sprach man in den Medien noch von der Rütli-Schule und dem „Problembezirk Neukölln“ – fürwahr, die Zeiten ändern sich!
Zwei Tage später sitze ich auf der selben Kiste, im selben Kaffee mit der selben Bedienung. Es ist Nachmittag. Die nächste Wohnung war eine Enttäuschung, das Café riecht nach Essen. Die Weltenbummlerin hat gekocht. Sie ist in der Küche um sich einen Nachschlag zu holen. Mit dem vollen Teller (es gibt Möhrensuppe) geht sie auf den Frühstückplatz vom Morgen zuvor zu und setzt sich hin. Für die Gäste gibt es Schokotarte.
Der TU-Student unterhält sich mit jemandem am Tresen. Es scheint ein Stammkunde und/oder Freund zu sein. Der Freund trägt eine verwaschene Jeans, ein weißes Hemd mit grünen etwa daumendicken Streifen und Espandrillas, die ihre besten Wochen wohl schon hinter sich haben. Er hat einen Bart, eine Brille und kurze Locken. Interessiert schaut er sich im Laden um, bevor er sich an den TUler wendet: „Habt ihr eigentlich inzwischen Angestellte?“ „Jein, hier wechseln sich vier Leute ab. Aber zwei hören jetzt auf. Der eine geht nach New York und der andere geht ab September nach Wien. Er erfüllt sich seinen Traum und wird dort Schuster.“
Die beiden unterhalten sich noch ein bisschen, dann holt der Gast sein Netbook aus der Umhängetasche, die er unter einem der ‘Tische’ verstaut hatte, und schaut den TUler fragend und hilfesuchend an: „Ich hatte Dir doch von meinem Linuxärger erzählt?…“ Die beiden wenden sich dem Computerproblem zu. Aus dem Café wird ein Esszimmer, wird ein Wohnzimmer, wird ein Büro. Eine Metamorphose begleitet von Paul Kalkbrenners “Altes Kamuffel”! „Habt ihr hier eigentlich immer offen?“, fragt der Gast, während der TUler ihnen einen neuen Kaffee macht. „Ja, eigentlich ist immer wer da… na ja ne, über die Fusion war hier zu“. Ich (heute im Kapuzenpulli statt Jackett) muss lachen.
Das Linuxproblem scheint schnell gelöst. Als der Freund ihn zum Dank am Abend auf ein Bier am ‘Kotti’ einladen will, droht die Situation – so wie der gesamte Ort – ins groteske abzurutschen: „Ne, heute kann ich nicht. Ich hab später noch ein Treffen mit so… Ökoaktivisten“. Was es mit den Ökoaktivisten auf sich hat, lässt sich für einen Außenstehenden nicht erschließen. Zu schnell driftet das Gespräch der beiden in Richtung von ‘Wohnen in Prenzlberg’ ab. Die Backpackerin scheint dort zuhause.
Während ich das zweite Stück vegane Schokotarte meines Lebens esse, ertappe ich mich bei einem besonderen Fall der Postrationalisierung. Von einem Moment auf den anderen bin ich davon überzeugt schon immer wegen der Tarte hierher gekommen zu sein. Es ergibt alles Sinn: Sie ist schokoladig und nicht zu teuer und bietet die perfekte Ergänzung zum Kaffee – und es gibt sie nur hier – so muss es gewesen sein!
Es sollten noch viele Wohnungen, Kaffees und Schoko-Tartes folgen.
Inzwischen habe ich aber die Wohnungssuche in Neukölln aufgegeben. Es ist eine Mischung aus verletztem Stolz, gepaart mit einem Hauch Ablehnung gegen die gegenwärtige Entwicklung. Neukölln will mich nicht, dann will ich Neukölln eben auch nicht!Es ist leicht sich einzureden, dass es dort sowieso keine ‘echten Menschen’ mehr gibt. Die Mieten steigen, die ursprünglichen Bewohner werden verdrängt – wer kann dieser Entwicklung guten Gewissens Vorschub leisten?!
Im August bin ich in den Wedding gezogen. Zwischen Moschee und Poco Domäne geht die Gentrifizierung weitaus langsamer von statten. An meiner spontan erlebten Freude, wenn sich doch einmal ein dreitagebarttragender Langbordfahrer in den ‘Wilden Wedding’ verirrt und im Café/Pizzeria/Kiosk vor der Haustüre einen Kaffee trinkt, wird mir der Trugschluss in meiner Argumentation deutlich.
Die Aufwertung von Vierteln ist nicht per se schlecht! Niemand kann etwas gegen Kitas und Kioske haben. Über die hippen Nebenerscheinungmuss man wohl lächelnd hinwegsehen. Zum Problem wird die Aufwertung erst, wenn sie mit Verdrängung einhergeht. Beides sind aber getrennte Phänomene, die auch als solche betrachtet werden müssen – auch wenn sie in der gegenwärtigen Stadtentwicklung viel zu häufig korrelieren.
Am Ende der Siegfriedstraße gibt es ein Graffiti von einem umgestürzten, brennenden Auto. Darunter steht „Gentrifizierung Stoppen! Werte Deinen Kiez ab!“. Es scheint kurzsichtig, sich den „Problembezirk Neukölln“ wieder zurück zu wünschen. Nur wenn es gelingt, Viertel für alle zu schaffen, kann Berlin seinem Ruf der Weltstadt – nach meinem Verständnis – nachkommen.
Das Café besuche ich noch immer mehr oder weniger regelmäßig, wenn es mich in Richtung Hermannstraße verschlägt. Der TUler arbeitet fast immer – seine Freundin habe ich lange nicht gesehen. Inzwischen hat dieser bizarre Ort, diese Mischung aus Wohnung und Lokal, Wohnzimmer und Wartehalle, auch einen Namen, der auf einem Holzschild geschrieben steht. Nur merken kann ich ihn mir nicht.