Sonnige Nächte #2: Eine Insel mit zwei Bergen

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Unterwegs zur Insel Seiland

Okay, die Insel Seiland hat mehr als zwei Berge. Aber das Jim-Knopf-Gefühl stellt sich spätestens dann ein, wenn man am samstäglichen Treff aller Bewohner teilnimmt und von der Unwichtigkeit eines Haustürschlüssels erfährt. Vor einem Jahr habe ich dieses Paradies im hohen Norden besucht.

 

Der Dampfer fährt los. Hinter mir die bunten Häuser von Hammerfest, vor mir glitzerndes Wasser mit einer Ansammlung von Inseln und Halbinseln, die sich in Fjordsystemen bis ins offene Meer erstrecken. Eine dieser Inseln heißt Seiland, und dorthin bin ich unterwegs, um ein paar Tage mit einer norwegischen Familie zu verbringen. Warum? Weil ich sehen will, wie Menschen im hohen Norden Skandinaviens leben. Wie habe ich das organisiert? Einfach auf Couchsurfing herumgesucht, bis ich die nördlichsten Mitglieder gefunden hatte, und angefragt.

 

Richtig, das heißt, ich kenne diese Menschen noch gar nicht. Bis jetzt habe ich aber gute Erfahrungen mit fremden Norwegern gemacht – die letzte gerade vor zwei Stunden, als mein Bus einen Zwischenhalt eingelegt hat. Dort stieg ein Mädchen mit einem kleinen Hund ein, auf den ich sie ansprach. Wir unterhielten uns kurz, dann erkundigte ich mich, ob sie in Hammerfest wohne. „Hammerfest?“ fragte sie und guckte mich verwundert an… So fand ich heraus, dass ich am vermeintlichen Zwischenhalt Busse wechseln musste. Die erste Regel des Rucksackreisens also nach wie vor: Rede mit Menschen.

 

Tschüss, Hammerfest.

Eine halbe Stunde lang fährt der Dampfer, bevor er mich auf Seiland absetzt. Dort erwartet mich auch schon Mimmi: sie nennt sich selbst eine aktive Oma, die früher gerne gereist ist und sich jetzt eben die Reisenden nach Hause holt. Mein Rucksack verschwindet in ihrem Kofferraum und wir fahren auf einer Schotterstraße – die einzige Straße der Insel. „Im Moment sind 72 Leute auf Seiland“, erzählt Mimmi, „und insgesamt wohnen hier 100. Es gibt aber auch noch ein paar Familien, die hier ein Ferienhaus haben.“

 

Ein kunterbuntes Haus

 

Die Schotterstraße führt über einen Hügel und hinunter zu einer Bucht, an der einige Häuser stehen. Das gelbe in der Mitte gehört Mimmi und ihrem Mann Anton. „Links wohnt mein Sohn mit seiner Familie“, sagt sie, als sie den Motor abschaltet, „und rechts meine Tochter. Die hat auch Kinder.“ Sie steigt aus. Der Schlüssel bleibt stecken. Sie bemerkt meinen Blick. „Ach so, ja, das machen wir hier so. Ist einfacher – so verliert man ihn nicht.“

 

Mimmi und Antons gelbes Haus

Die Haustür ist auch nur angelehnt, und drinnen werden wir von Anton erwartet. Der kann kaum Englisch, lächelt aber freundlich und gibt mir ein paar wollene Socken. „Haussocken“, erklärt seine Frau, und führt mich ins Gästezimmer. Von wegen Couchsurfing: Hier habe ich ein großzügig mit diversen Kissen ausgestattetes Doppelbett ganz für mich allein.

 

Wie so oft hier im Land der Mitternachtssonne habe ich mal wieder mein Zeitgefühl verloren. Es ist gefühlt drei Uhr nachmittags, aber eigentlich neun Uhr abends, als wir in Alufolie gegrillten Lachs mit Frischkäse und Frühlingszwiebeln essen. Heute erst gefangen, versteht sich, und die etwas zerrupfte schwarze Katze hat auch ein – allerdings rohes – Stück abbekommen. Verzogen sei diese, erzählt Mimmi, sie esse nämlich nur frischen Fisch. Morgen könnten wir ja auch mal angeln gehen? Ich nicke; so lange sie von mir mit keinem Erfolgserlebnis rechnet. Daraufhin lächelt Mimmi nur verschwörerisch und als sie meine Bedenken für Anton übersetzt hat, klopft er mir beruhigend auf den Arm und nickt.

 

“Nacht”wanderung

 

23 Uhr. Draußen sind noch Kinder unterwegs, als ich mit meiner Kamera losziehe. Die halbe Insel hat schon bei Mimmi und Anton vorbeigeschaut, und immer kamen die Leute nach kurzem Anklopfen geradewegs ins Haus. Ich setze mich ans Wasser und gucke in den Fjord, der sich an die Bucht anschließt. Die Sonne steht tief, aber nicht tief genug, um farbige Lichtbrüche hervorzurufen.

 

Später Nachmittag könnte es sein. Mein Körper checkt überhaupt nichts mehr. Mein Gehirn braucht ständige Uhrenvergleiche, die es aber trotzdem nicht ganz verarbeiten kann, und ich fühle mich, als hätte ich mal wieder zu viel skandinavischen Kaffee getrunken. Irgendwas an dieser ständigen Sonne fasziniert mich, berauscht mich. Ein fast vergessenerInstinkt in mir staunt und staunt und freut sich über das Ausbleiben der gefahrdurchzogenen Dunkelheit.

 

Ausblick auf den Fjord, kurz vor Mitternacht

Um 2 Uhr liege ich dann k.o. im Bett und ziehe mir meine Schlafmaske über die Augen, weil die Sonne durch den dicken Vorhang strahltals wäre es der erste Tag.

 

Ausblick auf den Fjord, mittags

Man sieht sich

 

Um ungefähr 10 Uhr bin ich wieder in der Küche und esse schnell ein Stück selbstgebackenes Brot mit selbstgemachter Marmelade aus selbstgepflückten Beeren, bevor Mimmi, Anton und ich in ihr Auto springen – der Schlüssel steckt schon, wie praktisch – und losdüsen, die Schotterstraße entlang. Es ist nämlich Samstag. Und samstags treffen sich alle Bewohner der Insel beim Laden zu Kaffee und Waffeln. Laden? Ja, das ist der einzige Laden auf der Insel und dort gibt es nur die nötigsten Dinge, wie zum Beispiel Knabberzeug und Angelzubehör.

 

Die Besitzerin des Ladens heißt Marilou. Sie ist in Kanada aufgewachsen, hat ihren norwegischen Mann auf einer Reise kennengelernt und ist dann hier gelandet. Ich frage sie nach den Haustüren. „Am Anfang habe ich auch immer abgesperrt“, sagt sie, „vorallem nachts. Aber inzwischen muss man bei uns auch nur noch die Klinke runterdrücken. Ich weiß gar nicht, wo der Schlüssel eigentlich ist.“ Dann guckt sie nach den Waffeln.

 

Ich sitze am Rand eines Biertisches und beobachte die Leute. Im Gegensatz zu anderen Teilen Norwegens sprechen die Inselbewohner kaum Englisch, oder haben zumindest kein Interesse daran, es zu üben. Man kennt Mimmi und ihre Couchsurfer ja schließlich, das ist nun wirklich nichts Neues. Die Kinder springen herum, essen Waffeln, lassen sich Eis von ihren Eltern ausgeben. Die Sonne scheint. Die Erwachsenen schlürfen Kaffee, erzählen, gestikulieren, und manchmal bricht eine der Grüppchen in großes Gelächter aus. Ich fühle mich hier sprachlos wohl und bin nun auch schon bei meiner zweiten Waffel angekommen – das Geld dafür wirft man in ein kleines Sparschwein neben dem Waffeleisen.

 

Da kommt Lukas angelaufen, der kleine Sohn der Ladenbesitzer. Er kann zwar als Zweijähriger auch kein Englisch, aber seine Mutter redet manchmal so und das macht mich ihm irgendwie sympatisch. Er greift sich meine Hand und wir gehen auf Streifzug an den geparkten Autos entlang. Dabei zeigt er, Buchstabe für Buchstabe und Zahl für Zahl, auf die Nummernschilder, und ich lese auf englisch vor. Das findet er toll, und als wir am Ende der Autoreihe angekommen sind, pflückt er einen Löwenzahn. „Bloomsta“, sagt er, und überreicht ihn mir. „Bloomsta?“, frage ich. Er nickt ernst. Mein norwegischer Wortschatz hat sich gerade um ein Fünftel erweitert: Hallo, Tschüß, Bitte, Danke, Entschuldigung und Blume.

 

Eine Weile dauert es noch, bis sich Mimmi und Anton ausgiebig mit den Anwesenden ausgetauscht haben, dann geht es wieder zurück zum gelben Haus. Auf dem Weg sehe ich ein Schneemobil einige Meter von der Straße entfernt in der Tundra stehen. Es sieht nagelneu aus. „Ach“, sagt Mimmi, „das gehört dem Stennar, der wohnt in Hammerfest. Er holt es sich im Winter wieder ab, wenn Schnee liegt.“ Ob der Schlüssel noch steckt? „Kann gut sein.“

 

"Er holt es sich im Winter wieder ab, wenn Schnee liegt."

Nachmittags gehe ich dann alleine ein paar Stunden auf Achse. Ich klettere auf den Hügel hinter dem Haus und lege mich in die Sonne, ich laufe über die harten, zähen Pflanzen, die in der Mitternachtssonnenzeit ihre Wachstumsschübe erleben und werde von ein paar Vögeln umflogen, die sich unsicher sind, ob ich nun eine Bedrohung darstelle oder mich nur verlaufen habe. Als ich zu Mimmi und Anton zurückkehre, bin ich so entspannt wie lange nicht mehr.

 

Frische Fische

 

„Komm’“, sagt Mimmi, als sie mich sieht, „wir gehen jetzt angeln.“ Das hatte ich ganz vergessen. Wir fahren mit ihrem Boot in die Bucht hinaus. Als wir eine geeignete Stelle gefunden haben, lasse ich unter Antons anleitenden Gesten eine Angelschnur ins Wasser. Sie hat drei Haken und über jedem Haken ein rotes Stück Plastik, darunter einen Senker, aber keine Köder. „Braucht man nicht“, sagt Mimmi, „wenn man die Schnur auf- und abzieht, irritiert das die Fische.“ Es irritiert die Fische, denke ich, sowas blödes habe ich ja noch nie gehört. Trotzdem lasse ich die Schnur ins Wasser, bis die Haken ungefähr auf 50 Meter Tiefe hängen.

 

Und unter dem Wasser: lauter Fische.

Wieder unter Antons Anleitung ziehe mit beiden Händen ruckartig an der Angelschnur, lasse sie langsam herunter, ziehe wieder, lasse sie herunter. Ein bisschen doof komme ich mir dabei vor, aber das Wasser glitzert so schön, die ersten Möwen kommen angeflogen, Mimmi wärmt auf dem Gaskocher unter Deck schonmal die Fischsuppe auf… Was? Ich frage nochmal nach. Ja, das tut sie, allerdings ist noch kein Fisch drin. Den, so Mimmi, werde ich schließlich gleich fangen. Optimistisch sind sie ja schon, die Norweger, denke ich und ziehe weiter die Haken auf und ab.

 

Keine fünf Minuten später wird es irgendwie schwieriger, zu ziehen. Ich schreibe das zunächst meiner mangelnden Fitness zu, aber als Anton es bemerkt, bedeutet er mir, doch mal die Schnur einzukurbeln. Ich kurbele. Das Wasser glitzert. Ich kurbele. Und da, ein silberner Blitz direkt unter der Wasseroberfläche!

 

Überrascht lasse ich die Kurbel los und Anton erwischt sie gerade noch. Er klemmt sie fest und zieht per Hand den ersten Haken mit dem ersten Fisch heraus, dann den zweiten, auf dem ein größerer Fisch hängt, und schließlich den dritten, an dem, ich stehe und starre, ein weiterer Fisch gefangen ist.

 

Anton ruft irgendwas zu Mimmi hinunter, die mir daraufhin fröhlich verkündet, dass die Suppe schon fast warm genug für den Fisch ist. Dann fängt er an, die Fische zu filettieren. Ich stehe und starre. Eins, zwei, drei, schon sind sie alle filettiert, die Möwen stürzen sich kreischend auf die im Wasser schwimmenden Reste, Mimmi verarbeitet den einen Fisch in der Suppe, die anderen kommen in einen Kühlbeutel. Einer ist für die Nachbarn, der andere für die Katze. Die isst ja nur … frischen Fisch, ich weiß.

 

Und dann sitzen wir da und essen unsere Fischsuppe, und trinken ein Stamperl Jägermeister, weil Mimmi den gerne mag. Ich brauche ihn, um meinen Magen einigermaßen zu beruhigen – die Suppe schmeckt himmlisch, aber den Fisch habe ich gerade noch zappeln sehen, und mein Kopf kommt mal wieder überhaupt nicht mit.

 

Diese Nacht schlafe ich sogar trotz Dauersonne wie ein Stein.

 

Diese Pflanzen überstehen sogar den langen Winter.

Und weiter

 

Am nächsten Tag weckt mich dann Mimmi; wir müssen los, der Dampfer geht in einer halben Stunde. Schnell packe ich meine Sachen zusammen. Ich esse noch ein Stück Brot mit einem Ei, welches eine Henne von nebenan heute Morgen gelegt hat, verabschiede mich von Anton, und dann geht’s auch schon wieder ab auf die Schotterstraße. Mimmi fragt mich, ob mir meine Zeit auf Seiland gefallen hat. Ich bin platt, sage ich ihr, komplett platt. Sie grinst und sagt, dann habe sie ihre Mission ja erfüllt.

 

Als der Dampfer in See sticht, stehe ich an der Reling und winke Mimmi nach, die mit ihrem Auto wieder entlang der Schotterstraße nach Hause fährt. Was für ein Ort, denke ich, was für ein unglaublicher, unwirklicher Ort. Ob ich irgendwann mal wiederkommen werde? Ich hoffe es. Das Wasser glitzert.

 


von barbara am 25.Jul.2012 in globus

1 Kommentar


  1. Super-schön dein Bericht! Mir sind ein wenig die Tränen gekommen vor lauter Mitstaunen und Fernweh – du musst die Reise vermissen. LG! S.

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