Zwei Jahre Audimaxismus: Happy Birthday #unibrennt!

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Das besetze Audimax der Universität Wien am 23.10.2009. Foto: Daniel Weber (CC BY-NC 2.0)

Heute vor zwei Jahren – am 20.10.2009 – beriefen Studenten und Dozenten an der Akademie der Künste in Wien eine Pressekonferenz ein, um gegen die Bologna-Reformen zu demonstrieren. Während der Pressekonferenz beschlossen die Anwesenden spontan aus Protest die Aula zu besetzen… Zwei Tage später fand vor der Hauptuni Wien eine Solidaritäts-Demonstration unter dem Motto “Die Uni brennt!” statt. Die Demonstrations-Teilnehmer entschlossen sich anschließend die Uni Wien zu besetzen. Ab diesem Moment verselbstständigte sich das Mem #unibrennt. Innerhalb von einer Woche sind alle wichtigen Universitäten Österreichs besetzt.

 

Am 3.11.2009 verfasst das Plenum im besetzten Audimax der Universität Wien einen Aufruf an die deutschen Studenten:

 

[...] Dies sind länderübergreifende Probleme, an deren Lösung wir als Studierende nur dann beteiligt sein werden, wenn auch europaweit protestiert wird.
Der Wille zur Selbstbestimmung der Studierenden und der Lehrenden ist ein zentrales Element dieser Bewegung in Österreich. Deshalb wurden Hörsäle besetzt, in denen nun lebendige und konstruktive Diskussionen stattfinden, an denen sich alle Studierenden jederzeit beteiligen können. Es ist wichtig, dass nicht nur protestiert wird, sondern dass Diskussionsräume jenseits öffentlicher Institutionen und etablierter Plattformen geschaffen werden. [...]

 

Das Mem springt daraufhin mit der Besetzung der Universitäten Münster und Heidelberg auf Deutschland über…

 


Heatmap, der Verbreitung des Hashtags #unibrennt auf Twitter

 

Schlussendlich werden in Europa von Barcelona bis zum Baltikum, von Dublin bis Albanien mehr als 100 Universitäten besetzt. #unibrennt ist damit die Mutter aller dezentralen, netzwerkbasierten und exponentiellen Protestbewegungen:

 


Kurzdokumentation zum Thema #unibrennt

 

#unibrennt generierte sich als Sammelbecken für die unterschiedlichsten Bewegungen und Projekte, die zumindest am Anfang, auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet waren.

 


Trailer zum Kinofilm: #unibrennt - Bildungsprotest2.0

 

Neben der Netzwerk-Kommunikation war es vor allem der Audimaxismus mit dem #unibrennt Neuland betrat: Audimaxismus ist nicht nur Wort des Jahres 2009 in Österreich, sondern auch und vor allem das Organisationsparadigma, durch das sich die #unibrennt-Bewegung manifestierte. Die Massenbewegungen der Empörten in der “Arabischen Welt”, Griechenland, Spa(r)nien, Israel oder nun in den USA und Deutschland folgen im Prinzip den selben Mustern, die 2009/10 erstmals in den besetzen Universitäten Europas erprobt wurden…

 

Das zugrundeliegende Prinzip ist dabei recht einfach: Uneingeschränkte Partizipationsmöglichkeit auf allen Ebenen. Dabei kann man zwischen zwei grundlegenden Organisationseinheiten unterscheiden… Das Plenum/die Vollversammlung und die Arbeitsgruppen:

 

Das Plenum ist die basisdemokratische Vollversammlung aller Anwesenden. Jeder, der da ist, ist Stimmberechtigt, kann sich einbringen und mit-diskutieren.

 

Die Arbeitsgruppen hingegen bilden die “harten Kerne”, sind sozusagen die Experten-Units, die Think-Tanks. Die Macher und Pragmatiker kümmern sich hier um die jeweils relevanten Themen: Medien, Medizin, Nahrung, etc.. Auch in den AGs kann jeder mitmachen (der Ahnung und Enthusiasmus hat). Aber: Sie sind zahlenmäßig wesentlich überschaubarer, daher aber auch effektiver in der Konsens-Findung und also schlussendlich handlungsfähig(er).

 

In den Arbeitsgruppen werden Vorschläge und Lösungen entwickelt, die später vom Plenum diskutiert und abgesegnet werden. Das Plenum – die Vollversammlung aller Anwesenden- legitimiert also gewissermaßen die Ansätze der Arbeitsgruppen – oder lehnt sie ab, dann wird nachgebessert:

 

Infographik des Audimaxismus in Wien aus meiner Master-Thesis

 

So großartig die integrative Herangehensweise ist, liegt hier leider auch ein riesiges Problem, das es bei zukünftigen Protesten dieser Art unbedingt zu lösen gilt: U.A. mit end- und ziellosen Gender-Debatten (dazu ein andermal mehr) wurde die Bewegung sturmreif geredet.  Das Gros der Studenten hatte einfach kein Interesse an solchen Debatten, und wollte – ganz pragmatisch – über die Bildungsmisere debattieren, Lösungsansätze entwickeln. In dem einzelne – organisierte – Gruppen versuchten, den Pragmatismus durch (linken) Dogmatismus zu ersetzen und #unibrennt zu instrumentalisieren, verlor die Bewegung ihr Momentum… Zwei Jahre nach dem Start ist #unibrennt weitestgehend eingeschlafen… Der desolate Zustand der Bildungsinstitutionen in Europa ist auch heute noch ein himmelschreiender Skandal!

 

Hey #unibrennt, auch wenn ich ein wenig enttäuscht bin, wie du dich entwickelt hast, du hast Geschichte geschrieben! Du hast die Acampadas in Spanien sowie die Vollversammlungen bei #ows vorweggenommen… Du warst der Inkubator der Organisationprinzipien der Empörten! Bitte, lass den scheiß Dogmatismus bleiben, und werd wieder pragmatisch-idealistisch!

 

Trotzdem: Alles Gute zum Geburtstag!

 

 


Disclaimer: Ich habe #unibrennt als Praxisbeispiel in meiner Master-Thesis über “evolutionäre Kommunikation in dynamischen Netzwerken” untersucht. Ich werde bei Gelegenheit mal meine Kapitel zum Thema blogtauglich aufarbeiten…


von fab am 20.Okt.2011 in wissen

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