Fensterfarmen: Eine Erbse macht noch keine Suppe… Aber eine Vorspeise!

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Ich betrete den Flur. Vor mir stehen zwei volle Müllsäcke, die darauf warten in den Innenhof getragen zu werden. Einer für Restmüll, der andere voller Biomasse. Im Hof gibt es keine Biotonne.

 

Ich komme ins Wohnzimmer. Ich war schon oft hier, aber dieses Mal ist etwas anders. Mein Fokus hat sich verschoben. Statt der sonst obligatorischen Flasche Wein habe ich heute meine Kamera dabei. Schon die letzten Male hatte ich festgestellt, dass sich in der WG von Fabian etwas tut. Von Tag zu Tag wird es grüner. Die früher triste Sitzecke mit den Ikea-Sesseln und dem ausrangierten Ledersofa der kauzigen Katzenfrau aus dem 5. Stock wirkt jetzt wie eine kleine Insel im Großstadtgrau.

 

Hydroponischer-Fenstergarten No. 3

Stolz zeigt mir Fabian seine neueste hydroponische Farm. „Hier wachsen Brokkoli, Gurken, Salbei, Dill, Basilikum…“, er zählt elf Kräuter und Gemüse auf. „Und das hier ist ein Erdbeerstrauch… schau, er hat schon Blüten.“ Jeder der zwölf Töpfe ist bepflanzt, auch die Gurkenpflanze hat schon drei gelbe Blüten. Sie rankt sich an einer dünnen Schnur, die von der Decke hängt, nach oben. Statt in Erde, stehen die Pflanzen in einem Granulat aus Ton, eine Zimmerbrunnenpumpe fördert Tag und Nacht Wasser mit Nährlösung durchs System. „Die Idee ist nicht neu, aber in Zeiten von Monsanto und Co. bekommt sie eine ganz neue Relevanz. Die Leute haben die Schnauze voll von Genmais aus Mexiko und Tomaten aus Israel, die nach nichts schmecken“.

 

Er zeigt mir seinen „Labortisch“. Eine kleine Fläche aus Baustellenbohlen, die an die Wand geschraubt sind. Neben einer Kiste voller Saatgut steht dort eine Flasche Flüssigdünger. „Den Dünger will ich eigentlich auch noch selber machen, ich bin mir aber noch nicht ganz sicher wie. Ich glaube, eigentlich müsste das mit Asche funktionieren. Da müsste alles drin sein, was Pflanzen brauchen.“ Neben der Flasche liegt ein Buch: Pflanzen wachsen ohne Erde von Ernst H. Salzer. Der vergilbte Einband und die Illustration im 60er-Jahre Stil lassen darauf schließen, dass die Idee tatsächlich nicht neu ist. Ich schlage es auf und blättere durch. „Stuttgart 1958, Printed in Germany“.

 

„In den USA ist Window-Farming schon ein viel größeres Thema. Dort nehmen sie PET-Flaschen, hängen sie übereinander und schneiden Löcher rein”, erklärt Fabian. „Das Wasser läuft dann von oben durch alle Behälter und kommt unten in einem großen Kanister an. Für mich waren Plastikflaschen aber keine Alternative. Ich will schon nicht aus dem Zeug trinken, warum sollte ich dann mein Essen darin anpflanzen?“

 

Der erste hydroponische Prototyp

Wir stehen vor Fabians ersten Prototypen der hydroponischen Window-Farm, die vielleicht irgendwann in Serienproduktion gehen soll. „Die hier ist noch am nächsten am amerikanischen Vorbild dran, statt Flaschen haben wir aber Tontöpfe genommen – ist alles noch was herumdilettiert. Der Ton ist auch nicht gut. Die Töpfe nehmen das Wasser auf und geben es an den Raum ab. So muss man ständig nachfüllen. Außerdem schimmeln sie!“ Zur Schimmelbekämpfung steht auf dem Labortisch eine Flasche mit Essigessenz und ein kleines Sprühfläschchen mit Spiritus. „Auch der zweite Prototyp hatte noch einige Kinderkrankheiten, aber jetzt glauben wir ziemlich nah an der optimalen Lösung zu sein.“

 

Ich schaue mir Prototyp 1 genauer an. Den Pflanzen in den meisten Töpfchen scheint es gut zu gehen. Von oben rinnt Wasser an einer dünnen Schnur herab. Es hat schon drei Töpfe bewässert. Mit gemischten Gefühlen schaue ich dem Kreislauf eine Weile zu. Irgendwann frage ich: „Meinst Du, das geht auf Dauer gut? Glaubst Du nicht, dass die Pflanzen merken, dass ihnen etwas fehlt?“ „Nicht bei allen! Einige mögen Hydroponik scheinbar gar nicht. Schnittlauch zum Beispiel hat noch nie länger als ein paar Tage überlebt. Aber Du siehst ja, den andern geht’s gut. Wir sind noch dabei rauszufinden, was gut geht und was nicht. Eine Erbse habe ich aber schon geerntet!“

 

Erbsenanbau auf der Fensterbank

Auf dem Weg nach Hause bin ich nachdenklich. Einerseits fasziniert mich der Gedanke von Gemüseanbau im Ballungsgebiet, macht es mir Spaß die Grenzen zwischen Land und Stadt verschwimmen zu sehen – andererseits bin ich ungläubig. Eine Erbse macht noch keine Suppe, geschweige denn eine autarke Lebensmittelversorgung.

 

 

Einige Tage später fahren wir zusammen zu den Prinzessinengärten am Moritzplatz. Der Garten, der seit 2009 auf 6000 m² Industriebrache entsteht, lädt zur Saatgutbörse. Schon auf dem Weg aus der U-bahn kommen uns lächelnde Menschen mit Ablegern in kleinen Töpfen entgegen. Auf dem Gelände tummeln sich Interessierte und Gärtner. Kinder bauen „Wurmkisten“ und spielen zwischen Kartoffelsäcken und Infoständen Fangen. Die Eltern fachsimpeln – sie beraten sich darüber, was auf ihrem Balkon wächst oder noch wachsen soll. Es weht ein Wind von Kreuz-Friedrichs-Berg. Eigen, aber nicht ungut.

 

Wir bestellen einen Kaffee und setzen uns zwischen die Pflanzen. Es ist unglaublich, was ein bisschen Grün auslöst. Es macht ruhig und zufrieden. Wir kommen auf das Thema vom Vortag zurück.

 

Ich spezifiziere meine Frage: „Und glaubst Du nicht, Dir fehlt bei der voll- oder zumindest halbautomatischen Hydroponik etwas? Glaubst Du nicht, dass einen die Hydrokultur um das meditative Moment der Gartenarbeit bringt, wenn man sich selber darauf beschränkt nur Wasser nachzuschütten?“ Er zieht an seiner Zigarette, überlegt einen Moment und antwortet dann: „Im Gegenteil, ich glaube die Hydroponik bereichert das Leben. Sie soll ja kein Substitut für den klassischen Anbau sein, sondern ihn ergänzen. Jeder Brokkoli, der hoffentlich irgendwann auf meiner Fensterbank wächst, ist einer weniger, den ich kaufen muss. Und es ist großartig, etwas wachsen zu sehen.“

 

Ähnlich scheint das Leitmotiv der Prinzessinengärten zu sein. Täglich wird hier nicht nur Kaffee, sondern auch warmes Essen angeboten. „Aus dem eigenen Garten?“, frage ich. Der Mitvierziger auf der anderen Seite des Tresen lächelt. „Klar, wenn wir können! Aber es reicht natürlich nicht, um nur aus dem Garten zu kochen. Dann wäre bald alles abgeerntet.“ Fabian nimmt einen Minzableger mit – inzwischen wächst er hydroponisch.

 

 

Wie schon häufiger in den vergangene Tagen bin ich hin und her gerissen. Einerseits bewundere ich, was diese Menschen auf die Beine stellen, genieße das freundliche Miteinander, das Lebensbejahende in einer Stadt, die sonst so häufig zu düsteren Beats den Niedergang der Welt feiert. Andererseits kann ich die Stimme der Ratio in meinem Kopf nicht abstellen. Es ist diese Stimme, die Träumer und Visionäre besser im Griff zu haben scheinen. Sie liefert Totschlagargumente – ist ein Katapult, das die Mauern eines jeden Luftschlosses zum Einstürzen bringt. Das muss der Grund sein, weshalb man erklärt, die Realisten hätten noch nie die Welt verändert.

 

Der Unterschied zwischen Träumer und Visionär scheint häufig nur einer der Betrachtungsrichtung zu sein. Rückblickend war jeder Visionär ein Träumer. „Träumen ist eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung für Visionen“ sagt die Stimme der Ratio in meinem Kopf – ich ärgere mich über sie und über die Statistikgehirnwäsche, die mich scheinbar mehr beeinflusst hat, als ich es mir eingestehen will.

 

Auf einer Bahnfahrt schreibe ich einen Satz in mein Notizbuch: „Wir waren noch nie so weit von unserem Essen entfernt– metaphorisch wie wörtlich.“ Die Globalisierung ist in erster Linie eine Globalisierung der Waren und des Geldes – nicht der Menschen. Die Menschen heute sind abhängig von den just-in-time Lieferungen, die ihren Discounter erreichen. Sie können zu jeder Zeit alles kaufen und doch – oder gerade deswegen – merken sie, dass an diesem System etwas nicht stimmt. „Die Kühlkette darf nicht unterbrochen werden“ ist das mächtigste Mantra unserer Zeit – um es mit Hagen Rethers Worten zu sagen.

 

Gerade vor diesem Hintergrund bekommt Regionalität einen neuen und gehobenen Stellenwert. Hinzu kommt das befriedigende Gefühl des Selbermachens. Ein eigener Salat schmeckt viel besser als ein gekaufter.

 

Ich probiere mich an ein Schema aus dem Geschichtsunterricht zu erinnern. „Versorgung einer Mittelalterlichen Stadt“. In der Zeichnung war das Versorgungssystem in Kreisen um die Stadt angelegt. Schnell Verderbliches in unmittelbarer Nähe, Haltbares weiter weg – und wir essen Äpfel aus Neuseeland. Das muss dieser Fortschritt sein, von dem immer alle reden…

 

 

„There are days when I palpably feel how much I rely on other people for pretty much everything in my life.” Mit diesen Worten beginnt Britta Riley einen Vortrag über die Vordenker der Windowfarming-Kultur und die Community, die sich auf der ganzen Welt entwickelt hat. Nach der Tertiärisierung, die über Jahre die Entwicklung im urbanen Raum bestimmte, scheint sich etwas in den Vorstellungen der Stadtbewohner zu ändern. Nach dem Trial-and-Error Prinzip entwickelt die Gemeinschaft Konzepte und Ideen weiter, und schafft so die Möglichkeit, einen Teil des eigenen Gemüsebedarfs selber zu decken. Das Internet bietet das Werkzeug, um aus lokalen Ideen global verbreitete Konzepte zu machen. Entscheidend scheint auch hier nicht die vollständige Autarkie, sondern eher das Leisten eines Beitrags zur Unabhängigkeit.

 

Hydroponischer Kräuteranbau auf der Fensterbank

Beim Abendessen – es gibt Kartoffelauflauf mit Kräutern aus Prototyp Nummer 3 – unterhalten wir uns über Expansionsmöglichkeiten. Fabian redet von Gärten auf Dächern. „Das war der ursprüngliche Plan, aber wir haben ohnehin schon Ärger mit der Hausverwaltung, da wäre das vermutlich weniger zielführend gewesen.“ Der Gedanke fasziniert mich dennoch. Mir kommen die Ideen der Bauhaus-Architekten in den Sinn. Flachdächer als Begegnungsstätte der Bewohner eines Hauses. Das kombiniert mit der Überlegung von Gärten lässt mich an eine utopische Stadt der Zukunft denken. Jeder Plattenbau begrünt. Wer mag, kann auf dem eigenen Dach gärtnern. Jedes Haus eine zumindest teil-autarke Insel. Großstadtgrau wird Großstadtgrün… mir kommen Bilder in den Sinn, die Teil einer schlechten Biermischgetränk-Werbekampagne sein könnten… nur irgendwie grüner.

 

Je länger ich mich mit dem Thema beschäftige, desto mehr habe ich das Gefühl, dass der Ansatz der Window-Farms und des Urban-Gardening im Allgemeinen der Richtige ist. Eine andere Welt ist nötig. Nach der Globalisierung muss zwingend die Re-Regionalisierung und Dezentralisierung folgen. Wer die entstehenden Konzepte als träumerisch abtut, macht es sich zu leicht. Es ist immer einfach, auf dem Standpunkt der Gegenwart zu stehen und denen, die über den Tellerrand hinausschauen vorzuwerfen, unrealistisch zu sein. Tatsache bleibt aber, dass sich die Welt im Wandel befindet. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir die neuen Herausforderungen lösen. Vor dem Schreckgespenst des Peak-Oils ist eine Wirtschaft und Gesellschaft, die auf Öl als einzigem Antrieb basiert, nicht nur anfällig, sondern akut gefährdet.

 

In den Ballungsgebieten sind Millionen von Menschen auf die zeitnahe Lieferung von Lebensmitteln angewiesen. Regionale Agrarwirtschaft ist häufig nicht mehr vorhanden. Und selbst wenn es noch ein Netz von Produzenten gibt, ging die Infrastruktur, die eine direkte Versorgung ermöglichte, längst verloren. Bauern liefern an Großhändler, nicht an Verkäufer. Selbst das Gemüse auf dem regionalen Markt trägt häufig genug den Aufkleber der Edeka-Hausmarke.

 

Wir müssen uns über die Schwächen dieses Systems Gedanken machen, solange wir noch den Luxus haben, dass es funktioniert. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass der Mantel der Zivilisation sehr dünn ist, sobald es zu einem Mangel an Grundbedürfnissen kommt.

 

Überall auf der Welt – sei es in alten Fabrikhallen in Detroit, in Tokio, am Mariannen- oder Moritzplatz in Berlin – beschäftigen sich die Menschen damit, den Faktor der Eigenversorgung, der zumindest auf dem Land lange Zeit selbstverständlich war, in ihren urbanen Alltag einzubinden. Die Window-Farms sind der individualisierte Versuch, diesen Aspekt auf die eigene Großstadtwohnung auszuweiten.

 

Als ich Fabian sehe, wie er den Dill zurückschneidet und in der Küche zum Trocknen aufhängt, wird mir aber klar, dass sie mehr sind: Sie sind Ausdruck eines sich verstärkenden Bedürfnisses nach Autarkie und dem Gefühl, etwas mit den eigenen Händen zu tun. Sind Anker und Bestreben nach Bodenständigkeit in einem Alltag, der zu stark aus dem Verschieben von Einsen und Nullen besteht. Sie sind Ausdruck der natürlichen Zufriedenheit, die sich einstellt, wenn man etwas wachsen sieht.

 

Das Bauen, Bepflanzen und Pflegen von Window-Farms ist eine Träumerei, von der ich hoffe, dass sie eine Vision sein wird!


von gastautor am 20.Aug.2012 in ideen

1 Kommentar


  1. maria sagte am 28. August 2012 um 17:57

    Sieht sehr fein aus.Da ich ein großes Südfenster hab, werd ich das im nächsten Jahr auch ausprobieren.Ich möchte gerne noch wissen aus was der Dünger besteht, Brennesseljauche ist ja eher nix für den Wohnzimmergarten

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  1. Von greenfairplanet.net am 27. Dezember 2013 um 11:08

    [...] ein Thema in Berlin ist derzeit so en vogue wie Urban Gardening: 2012 wird als das Jahr in die Stadtgeschichte eingehen, in dem die Stadtgarten-Revolution begann, [...]

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