Ein Mosaik aus Geschichten – auf dem Tweetup im Jüdischen Museum München

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Das Jüdische Museum München. Foto: Kulturkonsorten

Seit 2007 schon steht das moderne, kastenförmige Gebäude des Jüdischen Museums München neben dem modernen, kastenförmigen Gebäude der Münchner Hauptsynagoge und jedes Mal, wenn ich daran vorbeilaufe, denke ich mir: Da musst du mal rein. Der entscheidende Motivationsschub kam letzten Freitag in Form einer Einladung der Kulturkonsorten, einer Münchner Gruppe rund um Kunst und Digitales. Das Format der Veranstaltung: ein Tweetup, wie ich es auch schon im Archiv Geiger mitgemacht habe. Soll heißen, eine Kultureinrichtung lädt eine Gruppe Twitterer und anderer digital aktiver Menschen – worunter auch Blogger fallen, und, dieses Mal, Medienvertreter von BR und ZDF – zu einer Führung ein. Ein kostenloses WLAN Netz wird bereitgestellt. Die Besucher kommen mit Smartphones, iPads, Spiegelreflexkameras und manchmal sogar altmodischen Utensilien wie Block und Stift, und dann geht’s los…

 

Als mein Begleiter und ich etwas abgehetzt in das rundumverglaste Erdgeschoss eintreten, verschwindet die Twitterbande gerade im Treppenhaus Richtung erster Stock, Sonderausstellung „Juden 45/90“, zweiter Teil. Schnell legen wir unsere Mäntel ab und hechten hinterher. Die ersten kommen gerade oben an und lösen per Bewegungsmelder die Tonaufnahme einer Menschenmasse aus: „Mauer weg, Mauer weg!“ Die historische Orientierung ist sofort hergestellt, und so betreten wir einen rot gestrichenen Raum. Rot? Ja, denn wir sind nicht nur zeitlich kurz nach dem Mauerfall, sondern auch örtlich in Russland, bzw. der damaligen Sowjetunion gelandet.

 

Die Führung gibt Piritta Kleiner, Kuratorin am Jüdischen Museum. Das Publikum zählt gut 30 Besucher; nur zwei von uns kritzeln analog auf Papier mit. Der Großteil der anderen verwendet Smartphones, und ein paar Kameras und iPads kommen auch zum Einsatz.

 

Die Kuratorin Piritta Kleiner führt uns durch die Ausstellung. Foto: Kulturkonsorten

Zunächst erklärt Kleiner uns den Hintergrund der Ausstellung: Ab 1991 wurde es russischsprachigen Juden durch ein neues Gesetz einfacher gemacht, nach Deutschland zu emigrieren, und da in Russland die Situation für sie zusehends unangenehmer wurde, beschlossen viele, den Schritt nach Westen zu wagen. Hinter Berlin und Düsseldorf war München das drittbeliebteste Ziel dieser Zuwanderer, 10.000 von ihnen haben sich hier niedergelassen. Viel konnten sie nicht mitnehmen – was sie aber gewählt haben, davon hat das Jüdische Museum München für diese Ausstellung so einiges zusammengetragen und ausgestellt.

 

Im ersten, roten Raum sind das Gegenstände, die eine Verbindung zum Auswanderungsgrund haben. Zum Beispiel ein Geigerzähler. Die Berichterstattung über Tschernobyl war damals in der Sowjetunion so offensichtlich auf Verschleierung ausgerichtet, dass die Leute ihre Informationsbeschaffung so gut wie möglich selbst in die Hand nahmen – der Geigerzähler wurde Teil des Haushaltsinventars. Damit zeigt das Museum mit einem Gegenstand gleich zwei Gründe für eine Auswanderung: ökologische Bedenken und mangelndes Vertrauen in die Medien.

 

Vom Smartphone direkt ins Netz. Foto: Kulturkonsorten

Im nächsten Raum – dunkelblau – dann Gegenstände, über die die Zuwanderer vor Einreise eine Verbindung zu ihrer zukünftigen Heimat hergestellt und sich über sie informiert haben. Enzyklopädien über Deutschland finden sich neben Filmen, in denen die Deutschen als Nazis dargestellt und teilweise parodiert werden, und Werken deutscher Dichter und Denker, wie z.B. Heinrich Heine. Auch Lion Feuchtwanger’s „Erfolg“ ist vertreten, der im München der 20er Jahre spielt.

 

Die Gegenstände, übrigens, stehen nicht einfach so herum. Neben den Vitrinen finden sich Texte, Erfahrungsberichte und Erläuterungen der Personen, denen sie gehören. Oft sind diese in mehreren Sprachen, inklusive Russisch, gehalten, die verschiedenen Versionen vorsichtig mit Stecknadeln an die Wände gesteckt. Die Zuwanderung wird erklärt, nachvollziehbar gemacht durch Details, Familien- und Einzelschicksale, ein Patchwork an Geschichten und Einblicken, die sich zu einem großen Ganzen, einem erweiterten Verständnis der Zuwanderung zusammenfügen. Das Tweetup funktioniert im Prinzip ganz ähnlich – viele Einzelstimmen, die einen Gesamteindruck einer Veranstaltung ermöglichen. In diesem Fall sogar auch in mehreren Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch.

 

Fotografierend, tippend und kritzelnd bewegen wir uns hinter Frau Kleiner her. Manchmal muss sie jemanden höflich beiseiteschieben, der gerade zu sehr ins Twittern vertieft ist, um ihre Bewegung wahrzunehmen. Um es den kaum von den Bildschirmen aufsehenden Teilnehmern zu ermöglichen, sich wieder in ihre Richtung zu drehen, ruft sie auch einmal laut „Hier drüben bin ich!“. Schon skurril, dieses Format, und doch hat man den Eindruck: Im Internet bewegt sich was. Immer wieder kommt eine Frage aus dem digitalen Raum, und Christians Augen leuchten – als ich ihn zwischendurch nach Zahlen frage, sagt er etwas von 450 Tweets.

 

Innerhalb der Führung sind wir inzwischen in Deutschland angekommen. Auf einer Collage sind erste Eindrücke der Zuwanderer künstlerisch dargestellt.

 

Karteikarten zum Deutschlernen auf der Kühlschranktür – eine Collage. Foto: Schreibstoff

„Aldi war erstmal das Größte“, erklärt die Kuratorin. Angeblich waren die neuen Einwohner vor allem von den dort angebotenen grünen Nudeln sehr angetan. An der Wand des Raumes zieht sich die Skyline von München als weiße Silhouette vor strahlend blauem Hintergrund entlang. In der Mitte ein Tisch mit den Umrissen der Münchner Stadtteile – Adressen und Geschäfte einiger Zuwanderer aus dem Osten sind markiert.

 

Adressen und Geschäfte einiger Zuwanderer in München. Foto: Kulturkonsorten

Im zweiten Stock gibt es dann noch ein von hausfassadenförmigen Wänden eingeschlossenes Wohnzimmer, kleine Vitrinen zeigen persönliche Gegenstände: Erinnerungsstücke, die mit nach Deutschland genommen wurden. Eine Vitrine allerdings ist leer. „Viele konnten gar nichts Persönliches mitbringen“, sagt Kleiner, „Dazu hatten sie einfach keinen Platz.“ Rund um den Raum verteilt hängen auch Fragmente der Kunstsammlung von Julius Genss, der vor dem Zweiten Weltkrieg auf Kunst aus dem Osten spezialisiert war. Auch davon ging einiges verloren, was aber übrig ist, ist auf jeden Fall einen Besuch wert.

 

Hier endet dann die Führung und die Smartphones und sonstigen Aufzeichnungsgeräte werden für einen Applaus beiseitegelegt. Piritta Kleiner wirkt erleichtert – sie hat ihr erstes Tweetup erfolgreich bestanden. Ob es denn für sie eine ziemlich seltsame Führung gewesen sei, fragt ein Teilnehmer. „Nicht so seltsam, wie ich dachte“, antwortet die Kuratorin. Auch wenn sie nicht so oft direkten Blickkontakt gehabt habe, wie in gewöhnlichen Führungen, so habe sie doch ein sehr hohes Maß an Aufmerksamkeit gespürt.

 

Aufmerksamkeit die, wie sich nach der Auswertung herausstellt, durchaus auch im Internet angekommen ist. „836 Tweets, eine Reichweite von gut 172.000 Unique Usern (Tweets und Retweets), sowie eine Absolute Reach von 1.26 Millionen“, lautet die offizielle Statistik in der Zusammenfassung der Kulturkonsorten. Was bedeutet das? Ich habe nochmal den Experten Christian gefragt. “Unique User sind wirklich eindeutige User [...] bei denen unsere Tweets durch die Timeline gerauscht sind”, schreibt er. “Die Absolute reach ist dann wesentlich höher, weil einzelne User einen Beitrag u.U. mehrfach gelesen haben (würde damit den sog. Pageimpressions oder Views entsprechen).” In 172.000 Timelines war also mindestens ein Post sichtbar, als gerade der “Inhaber” seinen Twitterfeed angesehen hat. Alle Achtung.

 

Es wird fleißig getwittert. Foto: Kulturkonsorten

Auf dem Weg nach unten kommen wir nochmal am ersten Stock vorbei. „Mauer weg!“ tönt es uns entgegen. Zufall, dass das Gerät nicht im ersten, roten Raum, sondern schon im Treppenhaus installiert ist und damit auch vor Verlassen des Museums nochmal zum Mauerfall aufruft? Glaube ich kaum. Das Museum hat es sich zum Auftrag gemacht, Barrieren niederzureißen, Verständnis und Kommunikation von jüdischen Erlebniswelten zu fördern. Der Wunsch, dass jeder Besucher also etwas von seinem Museumserlebnis mitnimmt, teilt, und dadurch vielleicht in irgendeinem Kopf eine größere oder kleiner Mauer einreißt, vielleicht sogar einen anderen Menschen dazu motiviert, den Gang ins Jüdische Museum anzutreten und sich zu öffnen für jüdische Themen, wird einem hier also nochmal mitgegeben. Ob das mit Absicht ist oder nicht, ist eigentlich egal.

 


Eine Zusammenfassung der online Aktivitäten zum Tweetup kann man auf Storify nachlesen. Weitere Infos zu diesem und anderen Tweetups gibt es bei den Kulturkonsorten. Die Öffnungszeiten des Jüdischen Museums München sind von Dienstag bis Sonntag, 10 bis 18 Uhr, und auch der Museumsblog ist einen Besuch wert.


von barbara am 28.Nov.2012 in kultur

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2 Links


  1. Von kulturkonsorten.de am 29. November 2012 um 10:54

    [...] Ein Mosaik aus Geschichten – auf dem Tweetup im Jüdischen Museum München [...]

  2. Von www.tanjapraske.de am 4. Dezember 2012 um 07:58

    [...] es sechs facettenreiche Blogposts. Neben den bereits genannten Blogposts sind die Beiträge von Schreibstoff und frau Vogel sehr lesenswert. Die Posts beleuchten aus verschiedenen Blickwinkeln die [...]

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