Oh du fröhliche: “Weihnachten wird unterm Baum entschieden!”
Da ich durch ein Projekt zeitlich gerade stark eingebunden bin, war ich in letzter Zeit wenig draußen unterwegs und saß viel vor dem Computer… Dann brauche ich eine neue SD-Karte. Also begebe ich mich zu Fuß auf die Reise zum nächste Elektronikfachgroßsuperhypergigamarkt…
Während ich durch die Menschenmassen zum angestrebten Ziel navigiere beschleicht mich ein bedrückender Verdacht – zunächst noch ganz zaghaft: Irgendetwas ist anders… Die Stadt leuchtet blinkt mehr, als sie es sonst schon tut… Überall. Aggressiv und in bunten LED-kalten Farben. Ich versuche den Gedanken wegzuwischen. Nein, das kann nicht sein… Bitte! Nicht schon wieder…
Ich komme an Buden mit in China produziertem “erzgebirgischen” Holz-Deko-Nippes vorbei. Der Verdacht erhärtet sich… Als mir eine Gruppe glühweinseeliger Menschen im allerbesten Alter mit Weihnachtsmannmützen auf dem Kopf auf allen Vieren entgegen gekrochen kommt, und dabei “Dschingellbellls” lallt, konkretisiert sich der beunruhigende Verdacht zur schrecklichen Gewissheit:
Weihnachten. Fuck!
Muss das sein? Schon wieder? Hatten wir das nicht erst letztes Jahr??? Das Fest der Liebe. Die schönste Zeit des Jahres – für die Besitzer von Elektronikfachgroßsuperhypergigamarkt-Aktien…
Der Elektronikfachgroßsuperhypergigamarkt!?! Scheiße! Ich brauche diese verdammte Speicherkarte. Unbedingt. Ich muss da noch heute hin. Mir ist klar, was DAS bedeutet… Ich schlage den Kragen hoch, und gehe auf kürzestem Weg durch die Horden der konsumverzückten Weihnachtsenthusiasten mit ihren riesigen Trophäen-Tüten durch die Fußgängerzone auf mein Ziel zu.
Auf dem Weg passiere ich einen Mann im roten Mantel und mit roter Zipfelmütze. Mit einer verplombten Spenden-Dose sammelt er bei einem Stundenlohn von 6,20 Euro Geld für verlassene Kaninchen und kranke Kanarienvögel. Ein paar Meter weiter stürmt seine nuttig aufgemachte “Cousine” im roten Minirock auf mich zu und schnattert irgendwas von Weihnachts-Trucks und Gewinnspiel. Ich ignoriere sie und laufe weiter. Nur noch ein paar Meter – weiter durch die Fußgängerzone…
Da ist der Eingang. Es gilt das Reißverschlussprinzip. Unter den gütigen Augen des breitschultrigen Securitypersonals betreten die Ochsen und Esel Kaufwilligen des Abendlandes die Elektronik-Krippe… Sie haben Plastik, buntes Papier und rundes Metall als Gaben mitgebracht. Eine latent aggressive Stimmung liegt über der Menschenmasse am Eingang. Ich wiesel mich hindurch.
Im Rolltreppen-Stau auf dem Weg nach oben mustere ich die mir entgegen Kommenden: Sie haben ihre weihnachtlichen Pflichten schon erfüllt. Mit einem leerem Leuchten in den Augen tragen sie stolz die riesigen Boxen mit dem neusten – soon to be – Elektromüll vor sich her.
“Weihnachten wird unterm Baum entschieden!” prankt in riesigen Lettern über dem eigentlichen Haupteingang zum Elektronikfachgroßsuperhypergigamarkt. Was für eine Farce! Hatte Weihnachten nicht mal was mit dem kürzesten Tag des Jahres zu tun? Mit Familie, Beisammensein und Gemütlichkeit? Besinnlichkeit?
Drinnen herscht eine Stimmung, die den Arabischen Frühling wie einen langweiligen Camping-Ausflug erscheinen lässt. Jeder will Weihnachten für sich “entscheiden”…
Ich probiere die marktinternen Schnäppchen-Riots weitestgehend zu ignorieren, begebe mich auf kürzestem Weg zur Speichermedien-Abteilung, und greife nach der erstbesten SD-Karte…
Die Schlange an der Kasse ist gefühlte 100 Meter lang. Beep. Beep. Beep. Beep. “Das macht dann 624,76 Euro, bidde. Sammeln Sie Punkte?”, tönt es vom Anfang der Schlange. Im Zeitlupentempo verkürzt sich die Schlange. Warten auf die Gabenübergabe.
Vor mir in der Schlange steht – mit Kartons schwerbeladen – ein “Superdaddy”, Type “ich kaufe meine neuseeländischen Äpfel im Biosupermarkt, wegen meinem CO2-Footprint“.
Als er meine “läppische” SD-Karte erblickt, grinst er triumphierend und herablassend: Er hat Weihnachten gegen mich gewonnen! Ich lächele zurück, und lege die SD-Karte zu oberst auf seine gesammelte Beute. Da formatiere ich lieber eine alte SD-Karte. Diesen Schwachsinn mache ich nicht mit. Raus hier!
Gegenüber vom Elektronikfachgroßsuperhypergigamarkt-Ausgang beginnt der Weihnachtsmarkt. Eine Gruppe Wildgewordener tanzt um einen goldenen 70Zoll-Flachbildschirm mit 3D-View(™). Daneben singt eine Schar kongolesischer Kinderlein-Sklavenarbeiter aus den Koltanminen in Kivusee “Last Christmas” in der Endlosschleife. Muss wohl ein Betriebsausflug sein. Irgendwo, ganz weit hinten am Horizont grollt es…
“HoHoHo!“, lacht das Maskottchen eines großen US-amerikanischen Getränkeherstellers.
Ich entscheide mich gegen den Heimweg zwischen den Holzbuden und nehme eine ruhigere Seitenstraße parallel zum Weihnachtsmarkt. Während ich vor mich hin stapfe, denke ich an das Christkind. Was wohl aus ihm geworden ist? Jener engelsgleichen Gestalt meiner Kindheit, die es erstaunlicherweise immer dann schaffte, den Baum zu schmücken, die Kerzen anzuzünden und die Geschenke zu bringen, wenn gerade niemand da war…
Inzwischen bin ich am Weihnachtsmarkt vorbei. In einem Hauseingang kauert – in eine Decke eingewickelt – eine Gestalt, die sich an einem Adventskranz mit rhythmisch flackernden Elektro-Kerzen wärmt. Beim Näherkommen erkenne ich ihn: Es ist der Geist von Weihnachten, der da in seinem eigenen Erbrochenen sitzt.
“Haste mal ne kleine Spende, ich kann mir X-Mas nicht mehr leisten…” lallt er.
Ich krame in meinen Taschen, finde noch ein paar echte Kerzen, einen Tannenzweig und meine letzten Reste weihnachtlicher Stimmung. Davon gebe ich ihm etwas ab, bevor ich weiterlaufe.
Das ist einfach alles viel zu skurril! Ich muss lachen und beginne “Can’t buy me Love” zu pfeifen. Ich weiß, irgendwo da draußen kämpft auch das Christkind gegen diesen Schwachsinn an…
Das Schreibstoff Team wünscht allen Weihnachtszombies Braaaaaains!!!
- und allen Anderen ein frohes Fest.