Chai Limited #2: Indien – ‘Shanti Shanti’, oder: Immer mit der Ruhe

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Ende August, Grenze Nepal/Indien

 

Es brennt auf der Straße und riecht nach verkohltem Plastik. Es sind 45 Grad und ich habe einen 15 Kilo schweren Rucksack auf meinem Rücken. Ich will ja nicht jammern, aber nirgendwo ist ein Baum. Nur Sonne, Müll und Menschen. Naja, ICH wollt´ ja nach Indien. Ich habe in meinem Leben noch nie so viel geschwitzt und trinke Wasser mit rehydrierendem Pulver, das ich mir in einer windigen „Apotheke“ am Straßenrand gekauft habe. Ich könnte kotzen – und tue es dann leider auch. Auf einen bereitstehenden Müllberg am Straßenrand.

 

Leichte Panik breitet sich in mir aus. Inständig hoffe ich, dass dies eine einmalige Ausnahme aufgrund der äußeren Umstände war. Übelkeit oder Durchfall kann ich mir gerade echt nicht leisten. Vor uns liegt eine zehnstündige Fahrt mit dem Bus. Ziel ist Varanasi, die Stadt am Ganges und wichtigster Pilgerort der Hindus.

 

Heute morgen sind wir um halb fünf aufgestanden, um mit dem Bus durch das nepalesische Tiefland hinüber nach Indien zu fahren. Im Reiseführer wird dringlichst davon abgeraten, die Strecke im Tiefland mit einem lokalen Bus zu fahren. Es herrschen dort Rebellenkämpfe und man sei nahezu lebensmüde, wenn man dies tue. Ja quasi tot. (Anmerkung: Almut und ich verleben jedoch eine derart harmonische Fahrt, dass wir sie größtenteils verschlafen).

 

Ich hatte mir für die Reise vorgenommen, so viel wie möglich mit den lokalen Bussen zu reisen. So wie die Einheimischen eben. Und das ist ein Erlebnis für sich: man steht am Straßenrand mit seinem Gepäck, winkt den Bus heran, der so voll ist, dass man sich fragt, wo man noch hinpassen soll und wird samt Gepäck in den Bus hinein geschoben. Das Gepäck kommt in die eine Ecke, man selbst in die andere. Man bekommt einen Koffer unter die Beine, ein kleines Kind auf den Schoß, den schwitzenden Vater an die eine Seite und die zahnlos lachende, verschrumpelte Oma an die andere. Und so sitzt man da für die nächsten Stunden.

 

Anfangs war ich heillos überfordert, mit der Enge, der Hitze und dem Geruch, den vielen Menschen und den fehlenden Klos im Bus. Doch mittlerweile will ich nicht mehr anders reisen. So nah kommt man den Menschen hier selten – im wahrsten Sinne des Wortes – und man sieht Dinge, die Land und Kultur besser beschreiben, als jeder Reiseführer es könnte. Es ist eine langsamere und eindrücklichere Art zu reisen, als mit dem Flugzeug. Es bleibt mehr hängen.

 

Nun aber stehe ich direkt hinter der Grenze auf indischem Boden, habe mich gerade übergeben und lasse mich in der Hitze von Indern anstarren. Sie stehen einfach nur da und schauen. Ich winke. Sie winken zurück und zücken ihre Handys, machen Fotos und lachen uns an… Vielleicht ist dieses Land doch gar nicht so hart, wie man meint… abwarten, erstmal ankommen. „Shanti, shanti“, wie die Inder hier sagen würden: „Langsam, nur die Ruhe.“

 

 

Anfang September, Varanasi

 

Gerade geht die Sonne über dem Ganges auf und taucht die Stadt in ein goldenes Licht. Der Muezzin ruft gerade das Morgengebet von einem der Minarette, denn auch in der hinduistischsten Stadt des Landes gibt es Muslime. Ich mache währenddessen auf dem Dach meines Guesthouse Yoga, angeleitet durch unsere Guesthousemutter. An meiner Seite sind Almut und noch einige andere crazy Bewohner, die mich in einem Anfall von spiritueller Selbstfindung dazu überredet haben, mich aufs Dach zu stellen, um den Sonnengruß zu machen.

 

Nachdem ich die Sonne dann so lange gegrüßt habe, bis sie aufgegangen ist, esse ich endlich Frühstück, bestehend aus Okraschoten, Reis, dem obligatorischen Chai, Rührei und Porridge mit Kardamom. Ich bin heiter und entspannt, was vielleicht auch daran liegen mag, dass wir am Ende der Yoga-Session noch eine Lacheinheit einlegten. Man versucht durch eine spezielle Atemtechnik künstlich Lachen hervorzurufen, welches schlussendlich in echtem Lachen mündet – und durch den ganzen Sauerstoff leicht high macht. Täglich praktiziert, verspricht es angeblich Glückseligkeit und ein langes Leben.


Varanasi an sich liegt gerade unter Wasser, sprichwörtlich, denn der Ganges ist jetzt in der Monsunzeit zwölf (!) Meter über dem Normalstand und doppelt so breit wie sonst. Dies führt leider auch dazu, dass die meisten der berühmten Ghats, die heiligen Verbrennungsstellen der Hindus, überflutet sind.

 

Doch gestern waren Almut und ich an so einem Ghat und konnten eine Verbrennung „besichtigen“. Das klingt vielleicht makaber, jedoch sind solche Verbrennungen bei den Hindus Teil des öffentlichen Lebens. Der Tod gehört hier dazu. Er ist anders als im Christentum nicht der Übergang ins Himmelreich oder Paradies, sondern der normale Weg zur Wiedergeburt.

 

Leichenverbrennung am Ganges (Varanasi)

Jeder kann sehen, wie die Familie den Toten am Wasser wäscht und ihn mit Gewändern schmückt, ihm Münzen (für Reichtum im nächsten Leben) in den Mund legt und ihn mit Gewürzen und Ölen einbalsamiert. Dann wird der Tote am Ghat auf einen Stoß Holz gelegt und mit Ghee, einem indischen Fett, übergossen und angezündet. Verbrennt der Tote, zieht sich die Haut so zusammen, sodass sich die Beine nach oben biegen. Einer der Familie klopft sie mit einem Stock wieder hinunter, gießt Öl nach und es wird wieder gewartet. Das kann bis zu acht Stunden dauern. Somit haben die Angehörigen genügend Zeit sich vom Toten zu verabschieden, mit vielen Tränen und Schreien, aber auch Lachen und Singen.

 

Und auch hier fällt mir, ebenso wie in Nepal, diese lebensnahe Scheulosigkeit bei den Menschen auf. Bei den meisten Indern ist es selbstverständlich seinen Emotionen freien Lauf zu lassen, sie zu zeigen. Wir höflich erzogenen Europäer stehen als einzige mit Taschentüchern am Ghat und tupfen uns dezent unsere Tränen aus den Augen, während eine Frau neben uns hysterisch lacht und eine andere sich vor Heulen krümmt.

 

Am Ende wird die Asche in den Ganges gefegt. Dort warten bereits Kinder im Fluss, die versuchen die Münzen herauszufischen, die der Tote mitbekommen hat. Des einen Todes ist des anderen Leben. Ich stand unweit dieses Geschehens und wusste nicht, wie mir geschah. Mich umnebelte der süßlich-beißende Geruch des verbrennenden Körpers, ich sah die Kinder im Fluss, die Familienangehörigen und das Feuer. Mir wurde flau und ich konnte das Weinen nicht unterdrücken. Und musste es zwischen den Indernja auch nicht.

 

Nun sitze ich beim Frühstück und bemerke plötzlich erstaunt, dass ich hier ja noch kein einziges Mal krank war. War mir bisher noch gar nicht aufgefallen. Naja, ausgenommen dem einen kurzen Kotzanfall direkt hinter der Grenze, mit dem ich Indien quasi Hallo gesagt hatte. Aber ansonsten: kein Fieber, kein Magen-Darm-Irgendwas, nichts. Am Anfang der Reise hatte ich nur frittierte Sachen gegessen, mir mit gekauftem Wasser die Zähne geputzt und mich wie paranoid mit Mückenspray eingesprüht. Mittlerweile esse ich alles in der Straßeküche, wasche mich mit Wasser aus dem Hahn und habe volles Vertrauen in die indischen Moskitos.

 

Meine Reiseapotheke hingegen nimmt einen großen Teil meines Rucksacks ein und ich erwäge ernsthaft, einiges hier zu lassen. Platz schaffen für Souvenirs. Langsam wird’s dafür nämlich Zeit, ich fliege ja schon in gut einer Woche zurück.

 

09. September, Agra

 

 

„Boah, das ist ja voll klein… hätte ich mir irgendwie größer vorgestellt“, sagt Almut und zeigt auf das Taj Mahal. Und tatsächlich. Es wirkt auf Bildern irgendwie gewaltiger. Was aber nicht heißt, dass es nicht auch so der pure Wahnsinn ist. Ich meine: das Taj Mahal! Ich glaube, ich habe seit Wochen keinen Ort mehr gesehen, der so sauber war wie das Taj Mahal mit dem umgebenden Park. Drüben in der Stadt herrschen das Chaos, das Ockerbraun, der Staub, das Hupen und die Lautstärke. Hier drinnen die Ruhe, die Kühle, das Grün, die Symmetrie, das Wasser und der weiße Marmor. Sehr oasenhaft.

 

Ich stehe leicht paralysiert davor, fast meditativ betreten wir das Grabmal barfuß. Wir machen Fotos ohne Ende, aber man kann es kaum auf Bildern festhalten. Über das Gefühl vor dem Taj Mahal zu stehen, kann ich herzlich wenig sagen, man muss es eben selbst gesehen haben…

 

Dann gehen wir groß frühstücken – und zwar westlich. Mit Pfannkuchen, Orangensaft, Baked Beans und Würstchen. Jeden Morgen Reis mit Gemüse, dann auch noch scharf ohne Ende. Das geht wirklich gut, aber ab und an brauche ich mal den Kontrast. Und alles Westliche ist hier natürlich teuer.

 

Anfangs war ich noch sehr penibel mit dem Geld, drehte jede Rupie um, handelte Zimmer von ein Euro fünfzig auf ein Euro fünfunzwanzig herunter, aus Angst mein Geld könnte nicht reichen. Doch jetzt gegen Ende des Urlaubs werde ich verschwenderisch, gönne mir teureres Essen und auch mal schönere Zimmer. Gebe dem Rikschafahrer mal einen Tee und was zu Essen aus, oder in den Guesthouses am Ende Trinkgeld.

 

Das mit dem Handeln ist immer so eine Sache. Ich habe festgestellt, dass Handeln zur indischen Lebensartdazugehört. Handeln ist notwendig, Teil der Mentalität, macht mir persönlich total Spaß und ist wichtig für den allgemeinen Kurs. Gibt man als Tourist nämlich ständig zu viel, verändert man den Markt und Waren oder Fahrten mit der Rikscha werden auch für die Einheimischen immer teurer.

 

 

Zu Beginn war ich beim Handeln wohl noch sehr stümperhaft bei der Sache, wurde permanent übers Ohr gehauen, doch mit der Zeit bin ich da „indischer“ geworden. Almut hingegen, mit ihrem treuen, westlichen, nach Geld aussehenden Gesicht, kann hier nur schwer handeln. Daher stellt sie sich beim Verhandeln der Zimmer, oder auf dem Markt immer etwas aus der Sichtweite. Das machtecht einen Unterschied.

 

Der letzte Abend, Pushkar

 

Wir haben uns dazu entschieden, die letzten Tage unserer Reise noch nach Rajasthan zu fahren, dem Wüstenstaat von Indien. Wir wollen in die Hippiestadt Pushkar. In den Siebzigern war Goa bei Backpackern total angesagt, mittlerweile ist es Pushkar.

 

Die Regenzeit neigt sich in Indien dem Ende zu und man merkt dass die Luft kühler wird und es unregelmäßiger regnet. Ich sitze im Garten vor meinem Guesthouse und rauche Biris. Die schmecken echt mies, und sind so stark, dass ich sofort Kopfschmerzen bekomme. Almut und ich sitzen hier mit Israelis und essen Dhal Bhat, das Standardmahl bestehend aus Linsen, eingelegtem Gemüse, Reis und Joghurt. Dazu trinke ich das erste Mal auf meiner Reise Alkohol.

 

Prompt bin ich bierselig, mit Wehmut einhergehend. Im Kopf bin ich zeitweise schon auf dem Rückflug nach Deutschland, sehe Berlin vor mir und meine Leute. Meinen Freund. Ich freue mich einerseits wahnsinnig auf alles, aber ich kann mir andererseits gerade nicht vorstellen hier wegzugehen. Jetzt wo ich doch endlich in den Flow reingekommen bin. Jetzt wo ich anfange, das Land zu verstehen, seine Geschwindigkeit und Leute. Jetzt wo ich anfange es zu genießen und wo es aufhört mich zu überfordern. Jetzt soll ich hier weg?

 

Ich habe mal jemanden sagen hören, dass man Indien entweder hasst oder liebt, dazwischen gibt es nichts. Und dass man erst nach ungefähr drei Wochen anfängt, sich an Indien zu gewöhnen. Davor ist es eher begleitet von persönlichen Krisen. Genauso ist es!

 

Das Gefühl, im Kopf freier zu werden, ist, alles simpler werden zu lassen. Ich habe seit Wochen keine Musik mehr gehört, war nicht mehr im Internet und habe kein Fernsehen geschaut. Die Sinne für diese Dinge sind entschärft. Aber die Sinne für Farben, Gerüche und Geräusche werden feiner.

 

Leute, die auf ihrer „spirituellen“ Reise in Indien waren und davon erzählten, belächelte ich sonst oftmals als Räucherstäbchenfreaks, die mit Dreads und Hennatattoos durch die Stadt zu irgendwelchen Gurus rennen. Ich bin nicht allzusehr der spirituelle Typ, aber ich kann diese Heimkehrer mittlerweile besser verstehen. Das Gefühl mit Mut, etwas Geld und einem Lächeln in diesem Land fast alles erreichen zu können, setzt eine Unabhängigkeit in einem frei, die ich jahrelang in Berlin suchte und erst hier fand.

 

Während ich so in meinem eigenen, persönlichen Ego-Erfolg schwimme, mich selbst und die Welt genieße, Menschen liebe und im Geiste irgendwelche heiligen Bäume umarme, bemerke ich gar nicht, dass mein Bauch anfängt zu grummeln und mir so latent übel wird.

 

Schneller als ich „Biri“ sagen kann, hänge ich brechend über dem Loch im Boden (Erinnerung: keine Kloschüssel) und zähle im Kopf die Dinge auf, die ich heute gegessen und getrunken habe.

 

So hier bitte, hier hast du deine Krankheit, deinen körperlichen Kollateralschaden. Am letzten Abend der Reise. Scheiße, wo kommt das denn jetzt her?

 

15. September, Berlin

 

Die Schiebetüren der Flughalle gehen auf, mein Freund stürmt auf mich zu und bleibt erschrocken kurz vor mir stehen. Ich sehe schlimm aus, bin total fertig. Seelisch gefüllt und glücklich, körperlich am Ende. Bin 8 Kilo leichter und habe 39 Grad Fieber im Gepäck.

 

Noch weiß ich nicht, was es ist, hoffentlich kein Malaria, ich tippe mal auf eine krasse Magen-Darm-Grippe.

 

Die gute Erkenntnis dabei: Ich hätte meinem Körper nie zugetraut, dass er so viel aushält. Hitze, Rucksack, wenig Essen und Trinken, viel Laufen… Wo es hier in Deutschland gegen alle Wehwehchen was gibt. Da braucht man ja auch nix mehr aushalten, ne.

 

Einige Wochen später, Berlin

 

Ich merke, dass mich der Alltag und mein Berliner Leben sehr schnell wieder eingenommen haben, auch wenn ich mir vorgenommen hatte ALLES zu verändern und die Erinnerungen IMMER frisch zu halten. Eh unrealistisch.

 

Aber wenn ich mir Bilder anschaue, darüber erzähle, mich mit anderen darüber austausche, indisches Essen koche mit Almut, dann kommen viele Erinnerungen auf und erfüllen mich mit so einem „Wahnsinn-was-du-gemacht-hast“ Gefühl.

 

Und das kann mir niemand nehmen. Kein Alltag, kein Berlin, kein Nix.


Über den Autor:
Fabian ist zurzeit Student der Philosophie und Politikwissenschaft in Potsdam und spielt leidenschaftlich Theater.


von gastautor am 06.Sep.2012 in globus

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